Reutlinger Bekenntnis zu Grundgesetz und Demokratie im strömenden Regen

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Kundgebung am Mittwoch, 15. Mai 2024, im Reutlinger Bürgerpark zum 75jährigen Bestehen des deutschen Grundgesetzes

Was für eine Veranstaltung im strömenden Regen neben Reutlinger Krankenhäusle und Stadthalle, am Rande des Reutlinger Bürgerparks. Was für ein vehementes Bekenntnis zur Demokratie und zum Grundgesetz, das in diesem Jahr sein 75jähriges Bestehen feiert. Wenn ein Grundgesetz sich selbst feiern könnte. Weil das so aber nicht funktioniert, müssen das Menschen tun, die von diesem Grundgesetz profitieren.

Eigentlich müssten also alle Menschen, die in Deutschland leben, genau das tun. Das Grundgesetz feiern. Und sich freuen, dass wir in einem Land leben, das solch eine moderne und positive Verfassung hat. So ähnlich drückte es auch Gerd Krauß aus, der vom AK Flüchtlinge am Mittwoch, 15. Mai 2024, auf der kleinen Bühne im Bürgerpark sprach. „Wir können uns glücklich schätzen, eine der besten Verfassungen der Welt zu haben.“

Zunächst aber sprach Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck zu den rund 500 Feiergästen: Kaum war er ans Mikrofon getreten, da ließ ihn lautes Donnergrollen zunächst verstummen. Kurz darauf sandte der Himmel einen heftigen Regenschauer auf die Menschen herunter, der gut eine halbe Stunde anhielt. Ein kleines Wunder, dass sich die Festgesellschaft nicht in Windeseile aufgelöst hat?

Offensichtlich war das Thema den Menschen zu wichtig. Und Thomas Keck traf den richtigen Ton: „Gerade weil die Menschenwürde im nationalsozialistischen Staat mit Füßen getreten wurde, steht sie nun an erster Stelle im Grundgesetz“, hatte der OB gegen den Regen angerufen. „Das Grundgesetz ist die Klammer, die unsere Gesellschaft zusammenhält.“ Aber: Angriffe auf das Grundgesetz habe es auch in der Vergangenheit schon einige gegeben.

Allerdings verändere sich heute der Ton, „Hass und Hetze haben immer mehr zugenommen“, so Reutlingens Stadtoberhaupt. Allerdings würden sich auch zahlreiche Menschen für die Einhaltung der Grundrechte einsetzen. Ein Beispiel dafür – an der Nikolaikirche stehe ein Plakat mit der Aufschrift: „Man lässt keinen Menschen ertrinken“, zitierte Keck. „Punkt. Genauso ist es.“ Und Gleiches gelte auch für Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar – Punkt.“

Nach einem Geburtstagslied von Kinder-, Kammer- und Gospelchormitgliedern zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes rezitierte Tonne-Schauspieler David Liske – immer noch im strömenden Regen – ein Gedicht von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1931 – das an Aktualität kaum verloren hat, so Liske:

„Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Nachdem Santiago Österle aus dem Tonne-Ensemble seinen Rap-Song „Keep rolling“ vortrug, folgten einige Kurz-Interviews von Moderator und Hauptorganisator der Veranstaltung Dr. Joachim Rückle. Er sprach mit Vertreterinnen und Vertretern der Reutlinger Stadtgesellschaft, die sich allesamt für die Einhaltung der Grundrechte und der Demokratie aussprachen.

Wie etwa Yomna Baffoun als Sprecherin des Jugendgemeinderats. Oder Tuba Rahmann, die islamische Theologie studiert und sich im Reutlinger Integrationsrat engagiert. Oder die Unternehmerin Susanne Schöpfer, die das Grundgesetz als „riesiges Geschenk“ bezeichnete. „Jeder auf seinem Platz kann dem Nächsten helfen“, betonte Schöpfer.

Gerd Krauß betonte zudem: „Beim Artikel 16a, dem Recht auf Asyl, ist heute deutlich Luft nach oben.“ Vier Mitglieder der Württembergischen Philharmonie brachten künstlerisch-musikalisch ihre Töne zu Gehör, nachdem sie zuvor darauf hingewiesen hatten: Wenn sie im Orchester nicht so viele unterschiedliche Menschen aus allen Nationalitäten wären, dann wäre die Philharmonie nicht halb so gut.

Sehr bedächtig, sehr unaufdringlich und dafür umso wirksamer spielten die vier Musikerinnen und Musiker dann noch die Nationalhymne. Joachim Rückle blieb das Schlusswort. An dieser Stelle muss ihm ein ganz kräftiger Dank gesagt werden – für seine Organisationsarbeit, für das Hinterherrennen hinter allen Engagierten, die sich am Mittwoch eingebracht haben. Für sein Engagement in der Wilhelmstraße, um den Menschenrechten mehr Beachtung zu verschaffen. Dank für Rückles Hartnäckigkeit im Sinne der Demokratie. Der Menschenrechte. Der Nächstenliebe.

Reutlingens BIo-Bäcker Hubert Berger hatte Menschenrechte gebacken und sich damit an der Kundgebung beteiligt (Foto: Sabine Leister).

Sein Schlusswort: Jede Menge Anstrengungen würden laut Rückle zurzeit unternommen, von China, Russland und anderen Staaten, um die Demokratien in Europa zu schwächen, sie letztendlich zu zerstören. „Deshalb wird zurecht wird gerade über die wehrhafte Demokratie gesprochen“, sagte der Pfarrer. „Eine wehrhafte Demokratie, das sind wir alle.“ Wenn zu viele die falschen Parteien wählen würden, dann könne das die Demokratie zerstören. „Deshalb müssen wir am 9. Juni die Parteien wählen, die auf dem Boden der Demokratie stehen“, so Rückle.

„Setzt euch ein für eine Welt, in der auch unsere Kinder noch gut leben können“, so die abschließende Forderung von Joachim Rückle, bevor Nele, Maja und David als Band „Maybe Yesterday“ nochmals ihre musikalischen Beiträge mit faszinierenden Stimmen zum Besten gaben.

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