Bürgergeld: Über Gerüchte und falsche Behauptungen – Beate Müller-Gemmeke in der Reutlinger Citykirche

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Grünen-Bundestagsabgeordnete und Diplom-Sozialpädagogin Beate Müller-Gemmeke spricht in der Reutlinger Citykirche über das so viel gescholtene Bürgergeld

 Über das Bürgergeld weiß jeder was. Und in den allermeisten Fällen ist es nichts Gutes. „Seitdem es das Bürgergeld gibt, haben massenhaft Menschen ihren Job gekündigt.“ Das ist nach den Worten von Beate Müller-Gemmeke am Freitagabend in der Reutlinger Citykirche eines dieser frei erfundenen Argumente gegen das Nachfolgemodell von Hartz-IV. „Es ist absoluter Quatsch, dass Menschen ihre Jobs aufgeben, weil es nun das Bürgergeld gibt“, betonte die Grünen-Bundestagsabgeordnete. Nichts würde darauf hindeuten.

Dafür seien die Hürden auch viel zu hoch. „Das Bürgergeld sichert maximal das Existenzminimum.“ Und nicht mehr. Schließlich erhalte, wer seinen Job kündigt, zunächst mal drei Monate keinerlei Unterstützung. Danach folge das Arbeitslosengeld, ein Jahr später könne dann Bürgergeld beantragt werden – wenn man alleinstehend ist. Lebe man in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft, müsse der Partner, die Partnerin ebenfalls alle Daten, Verdienst, Einkünfte und mehr offenlegen. Nur, wenn Partner/Partnerin ebenfalls arbeitslos sei oder Geringverdiener, nur dann habe der Antrag auf Bürgergeld überhaupt Aussichten auf Erfolg.

Ein weiteres falsches Argument: Viele Menschen wollen nicht arbeiten und lehnen Jobs oder Maßnahmen der Agentur für Arbeit ab. Das sei ebenfalls ein Vorurteil, das liebend gerne gepflegt werde, sagte Müller-Gemmeke. „Gerade mal 0,4 Prozent der Erwerbslosen haben Maßnahmen oder Jobs abgelehnt.“ Das seien bundesweit wenige tausend Menschen. Und das habe nichts mit dem Bürgergeld zu tun, diesen geringen Prozentsatz habe es auch schon während Hartz-IV gegeben.

Noch ein Mythos sei: Arbeit lohnt sich nicht mehr. Ebenfalls völliger Unsinn, so Müller-Gemmeke. „Wenn nur eine Person in einem Haushalt arbeitet, hat dieser Haushalt mehr Geld, als wenn niemand arbeitet.“ Wer zu wenig verdient, kann aufstockend Bürgergeld beantragen. Und Wohngeld. Die Systematik sei die gleiche wie bei Hartz-IV.

Und nun noch ein paar Zahlen zu den Bürgergeldempfängern: Von denen gebe es in Deutschland momentan 5,5 Millionen. Darunter finden sich nach den Worten der Bundestagsabgeordneten 1,5 Millionen Kinder. 2,3 Millionen seien nicht arbeitslos, weil sie Schüler, Studenten oder in Ausbildung sind. 0,7 Millionen erhalten aufstockende Leistungen, mehr als eine halbe Million seien in Maßnahmen der Arbeitsagentur, 300.000 könnten nicht arbeiten, weil sie kleine Kinder unter drei Jahren betreuen oder Eltern pflegen. 250.000 Erwerbslose seien krank – blieben unterm Strich 1,7 Millionen Menschen, die tatsächlich arbeitslos sind.

Ein paar weitere Zahlen zur Richtigstellung: Alleinstehende Bürgergeldempfänger erhalten, wenn sie denn berechtigt sind, 563 Euro im Monat + Miete + Heizung. Im Bürgergeld enthalten sind 195,35 Euro für Lebensmittel. Wie wenig das ist, verdeutlicht eine andere Zahl: Kinder bis fünf Jahre erhalten 357 Euro Bürgergeld, darin sollen täglich 3,67 Euro täglich für Nahrung enthalten sein. Also rein rechnerisch. Das reicht nicht einmal für zwei Kugeln Eis in Tübingen. Zumal eine Familie aus Reutlingen dann erst mal schauen müsste, wie sie nach Tübingen käme – das Deutschland-Ticket ist nämlich im Bürgergeld nicht enthalten.

50 Euro seien bei Erwachsenen für Telekommunikation im Bürgergeld enthalten. Also fürs Smartphone, Fernsehen, WLAN und ähnliches. Der größte Wahnsinn beim Bürgergeld sei aber, so empfand es Bettina Noack vom Reutlinger Mütterzentrum: 2,03 Euro für Bildung. Also im Monat, nicht etwa pro Tag. „Ich kenne keine einzige Alleinerziehende, die es toll findet, vom Bürgergeld leben zu müssen“, sagte Noack. Viele Frauen müssten die Unterstützung kurz nach der Trennung vom Partner beantragen. „Das dauert oft sechs Wochen, bis sie tatsächlich Geld erhalten.“

Das brachte auch Traugott Huppenbauer auf die Palme: „Das ist genau das Gleiche wie bei den Flüchtlingen – ein System der Gängelung.“ Sozialhilfe, Hartz-IV oder Bürgergeld seien „noch nie eine Wohlfühlpackung“ gewesen, sagte Müller-Gemmeke. Als Friedrich Merz „im November 2022 zum ersten Mal dicke Backen gemacht hat und betonte, die Union will das Bürgergeld stoppen“ – ab dem Zeitpunkt sei die Diskussion förmlich eskaliert. „Das ist eine unsägliche Debatte“, betonte die Grünen-Politikerin. „Da wird einfach nur nach unten getreten, dabei geht es keinem einzigen Menschen besser, wenn Bürgergeldempfänger ein paar Euro weniger kriegen würden.“

Dank von Njeri Kinyanjui aus dem Reutlinger Gemeinderat für den Vortrag von Beate Müller-Gemmeke.

Zumal das Hartz-IV-System gar nicht so sehr geändert worden sei. Die Grünen hätten laut Beate Müller-Gemmeke gerne mehr erreicht – das bedingungslose Grundeinkommen wäre ein Traum von ihr. Aber: Es sei auch völlig falsch, wenn behauptet werde, dass immer mehr Menschen nach Deutschland kämen, weil es bei uns Bürgergeld gebe. „Die Flüchtlinge kommen zu uns, weil wir hier in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat leben“, sagte die Politikerin. „Ein paar Euro mehr als in anderen Ländern interessieren Geflüchtete überhaupt nicht.“

Bei der ganzen Debatte um Bürgergeld, um Missbrauch, um vermeintlich zu viel Geld, um falsche Anreize für Flüchtlinge, werde laut Beate Müller-Gemmeke immer eins vergessen: „Bei der ganzen Debatte geht es doch um Menschen.“ Und etwas anderes werde bei dem Treten nach unten wohl auch immer vergessen: „Innerhalb von nur einem Jahr können wir alle zu Bürgergeldempfängern werden.“ Ein kleiner Unfall auf dem Nachhauseweg mit der Folge der Berufsunfähigkeit – allzu schnell könne es jede und jeden Einzelnen erwischen. Und wer will schon von 563 Euro im Monat leben müssen? „Wenn es mir manchmal zu bunt wird, dann sage ich zu den Leuten: Lebt Ihr doch mal drei Monate vom Bürgergeld“, sagte Beate Müller-Gemmeke.

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