Palästinenser und Juden, die sagen: Das Morden muss aufhören – Bericht aus einem traumatisierten Land

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Ines Fischer war am 2. Mai 2024 zu Gast im Hohbuch-Gemeindezentrum – Als Pfarrerin an der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg berichtete sie eindrücklich über ihre Begegnungen mit Juden und Palästinensern, die gemeinsam nach Frieden suchen

Ines Fischer vor ihrer Arbeitsstätte, der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg in Jerusalem

„Die Frage nach einfachen Lösungen kann ich heute Abend nicht beantworten“, betonte Ines Fischer am Donnerstag im Hohbuch-Gemeindezentrum in einem fast übervollen Saal. Die Pfarrerin mit einem Auftrag an der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg in Jerusalem berichtete „nur“ über eine Perspektive, ihre eigene. „Ich bin keine Politikerin, aber nah an den Menschen dran und ich frage viel“, so Fischer, die zuvor eine Stelle in der Prälatur Reutlingen als Pfarrerin für Asyl und Migration innehatte. Die vergangenen Tage war sie auf Urlaub in Deutschland, sie besuchte ihre Eltern. Und ihre „alte“ Wirkungsstätte an der Achalm.

„Bei dem Krieg im Nahen Osten gibt es viele Perspektiven, von denen wir hier in Deutschland oft gar nichts wissen“, sagte Ines Fischer. Bewusst habe sie zusammen mit rund 30 Deutschen Menschen aufgesucht, die trotz der Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 den Glauben an Frieden nicht aufgegeben haben. Fischer berichtete von Juden und Palästinensern, die jeweils nahe Angehörige durch zum Teil bestialische Morde verloren haben. Sie habe palästinensische und jüdische Mütter kennengelernt, die gemeinsam um ihre Kinder trauern, zusammen um sie weinen. Ein Beispiel dafür sei das „Parents Circle Family Forum“, das 1995 gegründet wurde, in dem rund 600 Familien trotz des unendlich großen Leids „sich nicht der Rache verpflichten, sondern gemeinsam nach Lösungen suchen“.

In Israel herrscht totale Existenzangst – bei Juden und Palästinensern

Dabei sei es in diesen Zeiten in dieser Region alles andere als selbstverständlich, seine Trauer und seine Schwäche zu zeigen, berichtete Ines Fischer. Stattdessen beherrsche nach dem 7. Oktober die Angst die gesamte jüdische Gesellschaft in Israel, vollständig vernichtet zu werden. „Seit diesem Tag herrscht totale Existenzangst.“ Ermordet wurden am 7.10.23 bei dem Nova-Festival 260 Menschen, dazu rund 100 in einem Kibbuz in der Nähe. Getötet, abgeschlachtet, 239 weitere verschleppt, als Geiseln genommen.

„Die zweite Situation ist die im Gaza-Streifen“, betonte die Pfarrerin. Eine Freundin habe von 48 Menschen berichtet, die an einem Tag dort von der israelischen Armee ermordet wurden. Kollateralschäden auf der Suche nach Hamas-Terroristen? Die Menschen im Gaza hätten laut Ines Fischer das Gefühl, dass sich da was wiederholt: Nämlich die Vertreibung, die das palästinensische Volk 1948 schon mal erlebt hatte.

Von dieser Angst würden Palästinenser der Pfarrerin immer wieder berichten. Eigentlich ist sie auf dem Ölberg als Vertreterin der deutschen Evangelischen Kirche für Pilgerinnen und Pilger zuständig. „Aus verständlichen Gründen sind dort momentan sehr wenige Pilger vor Ort.“ Aber sie versuche, für die Menschen vor Ort etwas Ruhe und Mögichkeiten der Besinnung zu bieten. Direkt neben ihrer Wirkungsstätte, der Himmelfahrtskirche, ist das einzige palästinensische Krankenhaus, das Strahlentherapie bieten kann. Die Grenze zur Westbank, zum Westjordanland ist gerade mal 2,5 Kilometer entfernt. „Alle Palästinenser auf dem Ölberg haben Verwandte im Gaza.“ Und die Existenzangst, die Juden nun verspüren, sei unter den Palästinensern genauso existent. Und genauso groß.

Fischer berichtete von einem 77jährigen Palästinenser, der erst vor kurzem sein Haus in der Westbank verlassen musste. Er wurde von jüdischen Siedlern vertrieben. 700 000 Siedler würden mittlerweile rechtswidrig in der Westbank leben. „Für den 77-Jährigen ging nun auf einen Schlag sein ganzes Leben den Bach runter.“ Auf beiden Seiten – auf jüdischer wie auch auf palästinensischer – herrsche Angst. Und Wut. Und Hass. „In diesem Konflikt sind alle Opfer – und alle können zu Tätern werden“, sagte Fischer. „Auf beiden Seiten ist zurzeit alles verpönt, was nach Normalisierung klingt.“

Friedens-Initiativen kämpfen gemeinsam gegen das Morden an

Und dennoch gebe es eine ganze Menge jüdisch-palästinensischer Initiativen wie den Parents Circle. Oder wie die Gruppe „Roots“, die von einem Rabbi in der Westbank gegründet wurde und von einem Palästinenser unterstützt wird. Letzterer war wie seine Mutter und ein Bruder selbst in israelischen Gefängnissen, nahe Verwandte von ihm seien von Juden ermordet worden. Der Rabbi und der Palästinenser erzählen auch nach den schrecklichen Erfahrungen des 7. Oktober weiter, wie wichtig es sei, in Frieden zusammen zu leben. „Sie sind sich einig, dass das Morden aufhören muss.“

Eine weitere Initiative: „The other voice“ wurde von Roni Kedar gegründet, einer jüdischen Friedensaktivistin aus einem Dorf nördlich von Gaza. Dieser Ort wurde am 7. Oktober ebenfalls angegriffen, 20 Menschen sind ermordet, Häuser zerstört worden. Warum Kedar mit ihren Friedensbemühungen, mit den Gesprächen und der Hilfe für die Palästinenser weitermache? „Weil ich recht habe“, hat die 80-Jährige nach den Worten von Ines Fischer betont. Die Jüdin habe ganz einfach recht mit ihren Friedensbemühungen. „Chapeau vor dieser Dame.“ Die „Association for the Improvement of Women“ war die vierte Gruppierung, die Fischer am Donnerstagabend im Hohbuch-Zentrum vorstellte.

Dabei handle es sich um eine Gruppe im Ort Laqiya in der Negev-Wüste. „Ich kenne den Beduinen-Ort schon sehr lange, die Menschen dort befinden sich in Israel am unteren Rand der Gesellschaft.“ Die Association erfahre dennoch viel Solidarität. „Das sind nur vier Beispiele, die natürlich keine Garantie dafür sind, dass sich die Situation im Heiligen Land bessert – aber ich hätte noch 15 andere Initiativen auflisten können.“ (Wie etwa die Combatants for Peace, von denen vor wenigen Wochen zwei Mitglieder in Kirchentellinsfurt waren – siehe Bericht „Mit dem unbedingten Glauben an Frieden“ auf dieser Homepage.) „Auf dem Ölberg könnten die Beiden nicht zusammen auftreten, sie wären dort nicht sicher“, so Ines Fischer.

Die Frage, wer wann angefangen hat, führt zu nichts

Es sei wichtig, so Fischer, den Blick nicht auf all das zu richten, was falsch läuft, auf den Hass, die Angst. Die Fragen, wer, wann, warum mit dem Konflikt angefangen hat, führe zu nichts. Klar sei: „Es ist eine furchtbare Katastrophe, die dort passiert, auf beiden Seiten sind die Menschen unglaublich traumatisiert.“ Aber: Es gebe Konzepte, Ideen. Von dem jüdischen Philosophen und New Yorker Hochschullehrer Omri Boehm etwa, der mit dem Buch „Israel – eine Utopie“ nicht die Zwei-Staaten-Lösung fordert, sondern in einem Land Gleichberechtigung für alle Bürger. Egal, ob Araber, Juden, Palästinenser.

Das Fazit von Ines Fischer nach ihrem beeindruckenden und ergreifenden Bericht über die momentane Situation in dem Land, in dem sie seit wenigen Monaten arbeitet: „Ich kann mich nicht vollständig mit einer Seite solidarisieren.“ Was aber eindeutig gut sei: Mit den Menschen vor Ort zu reden, die eine andere Perspektive haben.

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