Ostern auf dem Ölberg am Rande eines Krieges – Interview mit Ines Fischer

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Ines Fischer war in Reutlingen bis Mitte 2023 als Prälaturpfarrerin für Flucht und Migration zuständig, seit vergangenen September ist sie in Jerusalem auf dem Ölberg als Leiterin des evangelischen Pilger- und Begegnungszentrums

 Ines Fischer war in Reutlingen eine allseits bekannte und hochgeschätzte Person. Sie engagierte sich über viele Jahre hinweg für Geflüchtete wie auch (auf dem Foto oben) für die Seebrücke auf dem Reutlinger Marktplatz. Nachdem sie von der Flüchtlingsarbeit an der Achalm direkt auf den Ölberg in Jerusalem gewechselt war, hat die Pfarrerin den 7. Oktober 2023 mit dem Terrorangriff der Hamas quasi hautnah miterlebt. In einem Interview beschreibt sie die momentane Situation, die Verzweiflung, die momentane Aussichtslosigkeit, sie wirft aber auch einen Blick in die Zukunft und was dafür benötigt wird.

Ines Fischer beim Interview im Juni 2023 zu ihrem Abschied aus Reutlingen – als noch niemand ahnen konnte, wie dramatisch sich die Situation in Israel verschärfen würde.

GEA: Wie fühlt sich das Leben in Jerusalem derzeit an? 

Ines Fischer: Die Stimmung ist insgesamt gedrückt. Zum einen ist da die Hoffnung, dass dieser furchtbare Krieg endlich aufhört, dann aber auch das Wissen darum, dass derzeit keine Befriedung in Sicht ist und es möglicherweise noch zu weiteren Eskalationen kommt. Trotzdem muss es im Alltag für die Menschen hier ja auch irgendwie weitergehen. Viele leben seit Jahrzehnten mit der ständigen Angst vor Krieg und Gewalt – allerdings hat dieser aktuelle Krieg jetzt noch einmal eine ganz andere Dimension.

GEA: Beherrscht die Angst das Leben in der ganzen Region?

Ines Fischer: Die Frage, wie es überhaupt weitergehen kann und was der nächste Tag bringt ist tatsächlich ständig präsent. In Israel bangen die Angehörigen der Geiseln um die Verschleppten und das Entsetzen über die Massaker vom 7. Oktober prägt die Gesellschaft. Im Gazastreifen hungern, leiden und sterben die Menschen. Mehr als 30 000 sind bereits tot und mehr als doppelt so viele wurden zum Teil schwer verletzt. Aus dem Libanon gibt es außerdem fast täglich Raketenangriffe, noch immer sind rund 100 000 Israelis aus dem Norden evakuiert und können nicht in ihre Häuser zurück.

GEA: Hat sich seit dem Krieg etwas geändert im Hinblick auf Deinen ursprünglichen Aufgabenbereich?

Ines Fischer: Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist eigentlich die Begleitung von Pilgerinnen oder Besuchern, die für eine kürzere Zeit hier im Land sind. Momentan sind das sehr wenige Menschen. Darum bin ich gerade vor allem in meinem anderen Schwerpunkt, der Begegnungs- und Gemeindearbeit tätig. Hier steht der Austausch und die Begleitung von denen im Mittelpunkt, die mit unserer Gemeinde in Kontakt sind und für lange Zeit oder schon immer hier leben

GEA: Wie sieht Deine tägliche Arbeit aus?

Ines Fischer: Als Gemeinde und im Pfarrteam versuchen wir gerade vor allem Orte zu schaffen, an denen Menschen zur Ruhe kommen können und Gemeinschaft erleben. Das geschieht in Gottesdiensten oder Andachten, bei Gemeindeabenden oder in Begegnungen mit Menschen, die versuchen in die Zukunft zu denken. Vor kurzem konnte ich außerdem an einer Begegnungsreise teilnehmen, auf der wir Menschen aus der Region getroffen haben, die sich trotz allem weiterhin in der Friedensarbeit engagieren. Unter den gegebenen Umständen erfordert es viel Mut, von Koexistenz und Versöhnung zu sprechen. Es wird in der Zukunft genau diese Stimmen dringend brauchen, die sich auf die jeweils anderen einlassen und nach neuen Wegen suchen. Ich halte es für ganz essentiell, diese Stimmen weiter zu tragen und von dem Engagement dieser Menschen zu erzählen.

GEA: Israel war schon immer seit der Gründung des Staates eine Art Pulverfass – wie kann es weitergehen? 

Ines Fischer: Es wird sicher lange und nachhaltige Bemühungen von vielen brauchen, um in dieser komplexen und schwierigen Situation Wege zu finden, damit Menschen hier auf Dauer in Sicherheit und Frieden leben können. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Grundsätzlich denke ich, dass diejenigen mehr Rückhalt brauchen, die dem Radikalen, Unmenschlichen und der Zerstörung ihre eigene Resilienz, ihre Kraft und ihre Hoffnung entgegensetzen. Entgegen allem äußeren Anschein: Es gibt diese Menschen hier. Sie werden nur viel zu wenig gehört.

GEA: Wie ist die Perspektive Ihrer Arbeit in Jerusalem?

Ines Fischer: Eigentlich scheint es in der aktuellen Situation unwirklich, aber ich hoffe, dass es auch wieder eine Zeit geben wird, in der Menschen kommen, die die Region kennenlernen oder sich neu mit ihr vertraut machen möchten. Wichtig ist mir, dass unser Pilger- und Begegnungszentrum der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands, Anmerkung der Redaktion) auf dem Ölberg dann einen Beitrag leisten kann, die Komplexität der Situation zu veranschaulichen. Genauso wichtig wird es sein, dass zukünftige Besucherinnen und Besucher in einen Austausch mit denjenigen kommen, die sich vor Ort auf der interreligiösen und interkulturellen Ebene für Versöhnung und Gemeinschaft einsetzen.

GEA: Ostern steht vor der Tür, Jerusalem ist da ein ganz besonderer Ort – wie wird dort angesichts des Krieges Ostern gefeiert?

Ines Fischer: Die Karwoche und das Osterfest sind in Jerusalem eine besondere Zeit und es gibt auch einige gemeinsame Gottesdienste, da Christinnen und Christen aller Konfessionen an Ostern miteinander feiern, dass es trotz aller Verzweiflung auch Hoffnung gibt. Diese Botschaft ist in diesem Jahr angesichts des Krieges tatsächlich besonders herausfordernd. Als evangelische Gemeinde werden wir am Ostermorgen auf dem Ölberg bei Sonnenaufgang den Auferstehungsgottesdienst feiern. Ich wünsche mir sehr, dass dies eine Erfahrung sein wird, die uns allen miteinander Kraft gibt.

GEA: Ist angesichts des Krieges überhaupt mit „normalen“ Osterfeiern zu rechnen?

Ines Fischer: Ich merke, dass es für die Menschen hier gerade grundsätzlich sehr wenig Normalität gibt – der Ausnahmezustand ist faktisch die Normalität. Gerade in solch einer Situation kann Glaube auch stärken und Kraft geben. Die Religion hat hier ja sehr viele Gesichter: Zum einen ist da das christliche Osterfest, zugleich begehen muslimische Gläubige den Ramadan. Ende April wird dann im Judentum das Pessachfest gefeiert. Die Dichte der Religiosität ist gerade in Jerusalem deutlich spürbar und es bleibt zu hoffen, dass es deswegen nicht zusätzlich zu Auseinandersetzungen kommt.

GEA: Kann man sich angesichts der Situation „Frohe Ostern“ wünschen?

Ines Fischer: Froh im Sinne von „fröhlich“ passt gerade nicht in die Lebenswelt hier. Für mich bekommt in der aktuellen Situation das Feiern von „Auferstehung“ aber noch einmal eine ganz andere existentielle Bedeutung: Der Tod soll nicht das letzte Wort haben. So sagt es unsere christliche Überlieferung. Ich wünsche mir, dass wir gerade an Ostern darum den Blick auf die Menschen richten, die nicht bereit sind, sich mit der Situation abzufinden, sondern versuchen, inmitten aller Verzweiflung Perspektiven zu entwickeln und auf andere zuzugehen. Die Menschen, die von Koexistenz sprechen und dem Tod und der Gewalt nicht das letzte Wort überlassen, sie verkörpern für mich die Osterhoffnung.

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