Wer Geduld lernen will, der gehe in Arztpraxen und Kliniken

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Vor ganz kurzem – der Rosenmontag und das ganze Gedöns stand bevor – musste ich sonntags zum ärztlichen Notdienst.

Warum? Ich hatte eine seltsame Wunde zwischen linkem Augenlid und Nasenwurzel. Solidarisch hatte sich mein Lid gleich mit zum Schwellen entschlossen. Was etwas blöd war, weil es mich am klaren Durchblick hinderte. Sonntags habe ich dann beschlossen, dass ich handeln müsste. Ich rief beim Kassenärztlichen Notdienst an. 116 117. Nach einer blechernen Computerstimme wie aus dem vergangenen Jahrhundert und ebenso blechernen unendlichen Goldberg-Variationen meldete sich irgendwann tatsächlich ein Mensch. Was mir denn fehle, an welchem Auge ich die Schwellung seit wann habe, wie mein Name, mein Geburtsdatum, Krankenkasse, meine Schuhgröße seien (nur Letzteres war gelogen). Als ich fragte, wofür die Frau all die Angaben brauche, ich wolle doch nur wissen, ob in Reutlingen ein Augenarzt Notdienst habe, sagte sie: „Ich muss die Daten ja an den Arzt weitergeben.“ Aha. Die nächste Augen-Notarztpraxis sei im Übrigen in Böblingen. Keine in Reutlingen? Nein. Tübingen auch nicht? Trotz Uni-Augenklinik? Nein. Also Böblingen.

Meine liebe Frau fuhr mich in erstaunlich kurzer Zeit (in knapp 40 Minuten) hin, wider Erwarten war dort gar kein Andrang, nach fünf Minuten waren wir wieder draußen. Die Ärztin hatte gemeint, es könne Herpes sein. Oder ein Abszess. Ich solle am nächsten Tag zu meiner Augenärztin, um das abzuklären. Okay. Am nächsten Morgen, gleich mit Öffnen der Arztpraxistür, um 7.30 Uhr stand ich auf der Matte. Mehr als 1,5 Stunden Wartezeit, um dann zu erfahren, dass ich mit diesem Ding da am Auge in die Tübinger Augenklinik soll. Sofort. Ah ja. Ich tat wie geheißen, in Tübingen angekommen, zog ich eine Nummer – wie beim Arbeitsamt. Stundenlanges Warten begann. Zunächst schaute ich eine gefühlte Ewigkeit lang immer wieder wie gebannt auf die Anzeigetafel. Ich hatte die Nr. 244. Es begann mit 220. In einem unbestimmbaren Takt blinkten Zahlen auf. Größere als 220, kleinere als 220, nur meine kam nicht.

Dann irgendwann doch. Hut ab. Fast eine Stunde allein bis zur Anmeldung. Das konnte ja heiter werden. „Warten Sie dort, wo Sie bisher saßen – Sie werden aufgerufen“, hieß es dann. Zwei Stunden später, ohne einen „Leister“-Ruf gehört zu haben, bin ich zur Information. Ob man mich vielleicht vergessen hat? „Ich guck mal“, sagte der Mann hinter der Info-Theke. Ich ging zurück auf den schon lange sehr unbequem gewordenen Platz. Eine halbe Stunde später passierte wieder nichts. Ich fragte erneut nach: „Da, die Schwester, die hätten Sie fragen können“, sagte der Info-Män. Ich schaute, sah keine Schwester. „Gehen Sie mal zur Leitstelle.“ Ich ging zur Leitstelle. Dort sagte besagte Schwester: „Ich frag mal nach.“ Das kannte ich ja schon. Immerhin: Sie telefonierte. Offensichtlich hatte man mich vergessen. Nach einer Weile sagte sie: „Gehen Sie mal zur Sehschule.“ Sehschule? Ich kann doch sehen. Noch. Schreiben und lesen auch. Wieso Sehschule?

Aber: Ich war dort schon richtig. Ein Arzt und eine Ärztin sprachen im Gang über mich. „Ich habe sie vorhin ausgerufen, Sie waren nicht da“, sagte der Arzt. Ich bekam Hitzewallungen und einen dicken Hals. Eigentlich war ich ja wegen des Eiterbollens am Auge gekommen, aber wenn das so weiterging … Übrigens hatte der Arzt eine FFP2-Maske auf. Wahrscheinlich wollte er nicht erkannt werden.

Erneutes Warten. Dann ein Ruf: „Herr Leister.“ Endlich. Jetzt kann ich hoffentlich bald nach Hause, dachte ich. Vergeblich. Der Maskierte stellte Fragen, wieder Untersuchungen, die ich morgens doch schon alle bei der Augenärztin absolviert hatte. Dann der Arzt: „Jetzt gehen Sie mal zum Fotografieren.“ Ich hätte platzen können. Aber ich bin natürlich zum Fotoshooting. Dort war ich keine fünf Minuten. Erstaunlich. Wieder in der Sehschule hatte ich noch einmal Glück: Eine Frau mit ihrem kleinen Kind war nicht auffindbar, ich rückte auf. Der Arzt macht weitere Untersuchungen. Was denn noch alles, dachte ich. Jetzt fertig? Nein. „Jetzt muss sich die Oberärztin das noch anschauen und eine Diagnose stellen.“ Ich war den Tränen nahe. Ich wollte nach Hause. Aber ohne Diagnose?

Dann irgendwann, nach weiterem Warten, endlich: Die Oberärztin persönlich empfing mich. Sie sandte einen Schwall von Fachausdrücken, ich verstand gar nichts. „Und was heißt das jetzt“, fragte ich. „Es kann ein Abszess sein, aber auch weißer Hautkrebs.“ Ups. Hautkrebs? Ich fragte nach. „Weißer Hautkrebs streut nicht, müsste aber operiert werden“, sagte der Maskierte. „Ich gehe jetzt mal davon aus, dass es ein Abszess ist, aber wir wollen sicher sein und sehen uns im März wieder“, sagte die obere Ärztin. „Am Internationalen Frauentag“, schob sie nach. „Ach, wie schön“, sagte ich, mit nur ganz leicht ironischem Unterton. Nach knapp sieben Stunden war ich zurück aus Tübingen, mit einem winzigen Tübchen antibiotischer Salbe für den Abszess. Ich hatte beschlossen, dass das kein Krebs sein wird. Hoffentlich hilft’s, dachte ich. Und stellte mir die Frage: Was hätte ich an diesem Sonntag und Montag bloß getan, wenn ich nicht die ganze Zeit bei Ärztinnen und Ärzten unterwegs gewesen wäre? Zumindest bin ich so dem Rosenmontag entkommen – in der Klinik war niemand närrisch. Da schauten alle Patienten sehr genervt aus der Wäsche. So wie ich wohl auch.

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