Schafphilosophie

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Ungefähr zehn Schafe tummeln und lümmeln sich auf einer Wiese. Manche zupfen an Grashalmen herum. Andere liegen trotz der Kälte im Gras oder sie stehen in der Gegend herum. Einfach so.

Eins schaut uns an. Zumindest mit einem Auge. Das andere müsste wohl auf einen Baum blicken, denn der steht hinter dem Schaf. „Was glaubst du, wie so ein Schaf diese beiden völlig unterschiedlichen Bilder im Kopf verarbeitet? Fügt es beides zu einem Bild zusammen“, frage ich Bine. „Mhm“, macht sie. „Das ist doch wie bei den Vögeln, oder?“ Ja. Oder wie bei Pferden. Die haben alle die Augen seitlich am Kopf. Das Schaf schaut uns weiter an. Und fragt sich womöglich soeben, warum wir es so unqualifiziert anglotzen. „Was geht in so einem Schafskopf wohl vor sich“, frage ich mich. Und Bine.

„Existentialismus“, sagt meine Frau unvermittelt und völlig unerwartet. Wie aus dem Nichts heraus. Ich wende meinen Blick weg vom Schaf und schaue Bine ziemlich entgeistert an. „Das Schaf denkt bestimmt über Existentialismus nach“, bekräftigt Bine. „Ja“, sage ich dann. „Klar, Existentialismus.“ Also Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Camus und so. Logisch. „Das Schaf hier beschäftigt sich jetzt gerade im Moment bestimmt mit den Fragen: Wieso bin ich hier? Was mach ich hier überhaupt“, sagt Bine. Äh, ja. Mir fehlen gerade die Worte. Sartre. Und die Schafe. Wahrscheinlich hat Sartre Schafe beobachtet, als er die existentialistische Philosophie entwickelte. Ich drehe mich wieder zum Schaf um, das uns immer noch anschaut und sage: „Jean-Paul? Simone?“

Anstatt uns verzückt ein Zeichen des Erkennens zu geben, wendet sich das Schaf ab. Zupft nun doch lieber an einem weiteren Grashalm. Ein anderes Schaf lehnt den Kopf an einen Baum.

„Wusstest du“, frage ich Bine, „dass Schafe Angst, Wut, Verzweiflung, Langeweile, Ekel und Glück empfinden können?“ Bine schaut verblüfft. „Nein, aber dass sie die meiste Zeit mit Fressen verbringen und immer nur kurz, maximal eine halbe Stunde lang schlafen – das weiß ich.“ Soso. Aber dass Schafe sogar Gesichter erkennen können, also die ihrer Artgenossen und die von Menschen, das wussten wir bislang beide nicht. Und vor allem nicht, dass Schafe sich mit Existentialismus beschäftigen. Daran sollte man immer denken, wenn man künftig Schafe arglos in der Gegend herumstehen, rumliegen oder sich an einen Baum lehnen sieht. Schafe – die unbekannten Wesen. Vielleicht gelingt es ja mal jemandem, ein tiefenphilosophisches Gespräch mit einem Schaf zu führen. Sollte das der Fall sein – unbedingt bei mir melden. Das würde mich interessieren 😊 Aber vielleicht klappt es ja auch bei mir beim nächsten Schäfchenzählen, wenn ich mal wieder nicht einschlafen kann. 😊

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