Kein Schlussstrich unter die Geschichte – Gedenken auf dem jüdischen Friedhof

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Gedenkstunde auf dem Jüdischen Friedhof bei Wankheim zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust

Vogelzwitschern. Autolärm. Kirchenglockengeläut. Während der Schweigeminute auf dem Jüdischen Friedhof waren diese Geräusche zu hören, als die rund 70 Anwesenden der Opfer des Holocaust gedachten. In der heutigen Zeit sind das völlig normale Geräusche – und doch schien die Zeit still zu stehen, als an die sechs Millionen ermordeten Juden gedacht wurde, „als der Wahnsinn die Welt regierte“, wie Tübingens Kreisarchivar Wolfgang Sannwald die Worte von Tübingens Landrat verlas. Joachim Walter war erkrankt und konnte nicht kommen.

Zu Beginn der Gedenkstunde hatte jedoch Michael Kaschi als Vorstandsmitglied der israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg an die „Pilgerväter“, die pilgrim fathers, erinnert. Vor mehr als 400 Jahren waren sie mit dem Segelschiff der Mayflower von England aus in die „Neue Welt“ nach Amerika aufgebrochen und galten dort als eine Gruppierung der ersten Siedler. „Wenn Sie heute in der Stuttgarter Königstraße eine Umfrage machen, wer die Mayflower kennt, werden Ihnen wohl acht von zehn Menschen sagen, dass sie mit diesem Namen nichts anfangen können“, so Kaschi.

Wenn man aber nach einem unbedeutenden Volk fragte, das vor 3300 Jahren mit dem ebenfalls unbekannten Menschen Moses aus Ägypten ausgezogen ist, dann würde nach Kaschis Überzeugung acht von zehn Passanten etwas mit dieser Geschichte anfangen können. „Bis heute wird dieser Auszug aus Ägypten immer weiter erzählt und das Volk Israel hat die Welt nachhaltig verändert.“

Doch dann die Gräueltaten von Ausschwitz, „als so unglaublich brutal und völlig sinnlos Menschen umgebracht wurden, sie hatten niemand was getan, sie hatten gelacht, waren fröhlich, sind zur Arbeit gegangen, haben Gutes getan“. Und dann wurden nicht nur sie selbst, sondern auch all ihre Träume in den Krematorien von Auschwitz verbrannt“, betonte Michael Kaschi. „All das darf nicht vergessen werden, es muss immer weiter erzählt werden.“

Einen Schlussstrich unter Geschichte zu ziehen, wie es immer mal wieder gefordert werde? Das dürfe nicht sein, „diese Geschichte darf nicht vergessen werden“, forderte Michael Kaschi. „Die Ermordeten haben es verdient, dass man an sie denkt – würden ihre Geschichte vergessen, wäre das gerade so, als würden sie nochmals getötet.“

In Vertretung des Landrats zitierte Sannwald aus Walters Worten: In Deutschland werde zurzeit in vielen Städten mit Hunderttausenden Menschen demonstriert. Es sei gut, öffentlich für Demokratie, den Rechtsstaat und eine offene Gesellschaft einzutreten. Aber: Seit dem 7. Oktober 2023 hätten auch in Deutschland antisemitische Vorfälle wieder zugenommen. Es dürfe nicht sein, dass Juden sagen, sie hätten Angst, hier zu leben. „Der Terroranschlag der Hamas war auch ein Angriff auf die Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis.“

Walter sei dankbar für die Demonstrationen zum Erhalt der Demokratie in Deutschland – aber er hätte sich auch mehr Stimmen und Menschen gewünscht, die sich eindeutig für Israel aussprechen. Organisiert wurde die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocaust auf dem Friedhof bei Wankheim im Übrigen vom Förderverein für jüdische Kultur – der gleiche Verein, der sich auch um den Erhalt und die Sanierung der jüdischen Grabsteine auf dem Friedhof einsetzt. „Ich bin schon oft angefragt worden, wenn es um die Vorschriften bei der Sanierung der Gräber ging“, hatte Michael Kaschi nach der Gedenkstunde erläutert.

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