Jede und jeder hätte Opfer sein können – Gedenken im Reutlinger Kunstverein

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Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus beschäftigte sich am Samstag beim Reutlinger Kunstverein mit „Asozialen“

Franziska Schiller hatte ein Bild gemalt auf dem sechs Augenpaare zu sehen sind. Die mehrfach beeinträchtigte Künstlerin wollte damit ausdrücken, dass man wertschätzend auf diese Welt blicken kann. „Ich wollte die Verbundenheit mit den Opfern des Nationalsozialismus darstellen“, so Schiller. Ein sehr beeindruckendes Bild, das Teil der Gedenkveranstaltung im Reutlinger Kunstverein am vergangenen Samstag war.

Zu diesem sehr berührenden Gedenken hatten neun Gruppierungen und Organisationen geladen, „die sich jedes Jahr wieder Gedanken über die Opfer des Nationalsozialismus machen“, wie Hanspeter Brodbeck kurz vor der Veranstaltung erläuterte. Eine Gruppe, die erst im Jahr 2020 offiziell als Opfer der NS-Zeit anerkannt wurde, stand dieses Jahr im Zentrum der Veranstaltung – sogenannte „Asoziale“, die in den Augen der Nationalsozialisten keinen Wert für die Gesellschaft darstellten, nur eine reine Belastung waren. „Sie entsprachen nicht der Norm des NS-Regimes“, so Christian Lawan aus dem Vorbereitungsteam der Veranstaltung.

Wer aber wurde damals dazugezählt? Bettler, Wohnungslose, Kleinkriminelle, Prostituierte, unverheiratete Frauen mit Kind – „die Gruppe war nicht klar definiert“. Die NS-Diktatur fand eigene sehr variable Definitionen: arbeitsscheu, faul, nutzlos, Ballast, Menschen mit minderwertiger Erbanlage. „Damals galt Armut und Elend oft als selbstverschuldet – und zum Teil sogar genetisch bedingt“, betonte Lawan. Schlussendlich hätte also jede oder jeder als „asozial“ bezeichnet werden können. Mit grausamsten Folgen.

Genaue Zahlen über diese Gruppe habe es nie gegeben. Schätzungen lagen bei rund 70 000 Menschen, doch auch nach dem Ende des Regimes erhielten die Verfolgten, Gepeinigten nicht sofort die Anerkennung als Opfergruppe. Das Bewusstsein, dass die Menschen doch irgendwo selbst schuld an ihrem Schicksal waren und zurecht verfolgt wurden, hielt sich auch lang nach der Nazi-Diktatur. „Erst 2020 stimmten alle demokratischen Fraktionen im Bundestag dem Antrag zu, diese Menschen nachträglich als Opfergruppe zu definieren.“

Schülerinnen des Kepler-Gymnasiums aus der Geschichts-AG hatten viele Wochen im Reutlinger Stadtarchiv recherchiert und einige Opfer aus der Region ausfindig gemacht. „Die Eingruppierung als ‚Asoziale‘ blieb meist diffus“, lautete eine Erkenntnis. „Die Akten des Reutlinger Fürsorgeamtes gaben nur ein bruchstückhaftes Bild wieder.“

Der Katholik Karl S. etwa wurde als Führungsmitglied der KPD verfolgt, verlor aufgrund einer halbjährigen politischen Haft seine Arbeit, wurde des Hausfriedensbruchs und Waffenbesitzes angeklagt. „Er war insgesamt fünfmal in Haft“, so die Geschichtsforscherinnen. Andere Opfer kamen wegen Trunksucht, wegen „schlechten Verhaltens“, Belastungsschwäche, Sittlichkeitsverbrechen und anderen „Vergehen“ in ein Arbeitslager in Buttenhausen oder in Konzentrationslager.

„Wir gedenken heute an Tausende von gequälten und ermordeten Menschen“, hieß es aus der Reihe der Aktiven des Vorbereitungskreises der Gedenkveranstaltung. Es falle schwer, die damaligen Verbrechen zu begreifen, „wir wollen dazu beitragen, dass es kein erneutes Schweigen gibt – wir wollen wachsam sein gegenüber alten und neuen Feindbildern“. Die Lehre aus all den Erfahrungen unter dem NS-Regime könne laut Brodbeck nur heißen: „Nie wieder.“

 

INFO:

Veranstalter des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

 Zum Vorbereitungskreis für die Gedenkveranstaltung am Samstag zählte die Agentur für unschätzbare Werte, die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, Bruderhaus-Diakonie, Ev. und kath. Gesamtkirchengemeinden, Geschichts-AG Kepler-Gymnasium, Geschichtsverein Reutlingen, Habila GmbH, Kunstverein und der Verdi Ortsverein Reutlingen. Katrin Zürn-Steffens, Hanspeter Brodbeck und Christian Lawan waren die führenden Personen im Vorbereitungsteam.

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