Reutlingen zeigt Flagge – Mehr als 5000 Demonstrierende sagen „Nein“ zur AfD und „Ja“ zu Menschenrechten

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Reutlinger Marktplatz wurde am Freitagabend, 26. Januar 2024, von Demonstrierenden gegen Faschismus regelrecht geflutet

War das nun ein historischer Abend, an diesem Freitag, 26. Januar, als zwischen 5000 und 8000 Menschen auf den Reutlinger Marktplatz gekommen waren, um ein eindeutiges Zeichen gegen die AfD, gegen Faschismus und für Menschenrechte zu setzen? „Ich habe in den vergangenen 50 Jahren noch nie so viele Menschen auf diesem Platz gesehen“, sagte Oberbürgermeister Thomas Keck, der ebenso wie einige andere Redner an diesem Abend passende Worte fand.

Die Grundrechte der Demokratie würden immer wieder von der AfD angegriffen und mit Füßen getreten, betonte Keck. Die sogenannte „Alternative für Deutschland“ habe den Diskurs in der Politik verändert, „wer Menschen entsorgen will, gehört nicht in deutsche Parlamente“, sagte der OB. Und er zeigte auch eindeutig Kante gegen die AfD-Vertreter im Reutlinger Gemeinderat: Thomas Keck sei nicht bekannt, dass sich die AfD um Hansjörg Schrade eindeutig von den menschenverachtenden Äußerungen solcher Personen wie Björn Höcke, Beatrix von Storch und anderen AfD-Mitgliedern eindeutig distanziert hätten.

Organisiert hatte die Demonstration auf dem Reutlinger Marktplatz Cathy Hammer vom Stadtjugendring und Grünen-Gemeinderat Karsten Amann. Eine beeindruckende Zahl von 90 Organisationen hätten sich beteiligt. Darunter Kirchen, PP.rt mit roten Luftballons und Parteien (die FDP hatte gar ihren Neujahrsempfang an dem Abend abgesagt). Gewerkschaften waren vertreten, die IG Metall machte beim Betreten des Marktplatzes lautstark und bunt auf sich aufmerksam.

Selbst Geschäftsleute hätten laut Hammer ihre Läden in der Innenstadt früher geschlossen, um an der Demonstration teilnehmen zu können. Ziemlich seltsam wirkten die Schaufensterpuppen in den hell strahlenden Fenstern eines Modehauses, die in kurzem Rock oder Unterwäsche scheinbar auf die Demonstration herunterblickten.

„Wir brauchen die Demokratie, aber jetzt braucht die Demokratie vor allem uns“, rief Cathy Hammer den Tausenden Demonstrierenden entgegen. Landrat Ulrich Fiedler war auf dem Marktplatz ebenso zu anwesend wie zahlreiche Abgeordnete aus Land- und Bundestag. Dazu auch „viele über-80-Jährige, die überhaupt zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei sind“, so Hammer. „Wenn andere Hass und Hetze säen, zeigen wir unsere Herzen – das ist Reutlingen, das ist unsere Stadt.“

Laut Dusan Vesenjak leben in der Achalmstadt 160 unterschiedliche Nationen friedlich zusammen. Auch er sei als Sprecher des Integrationsrats zugewandert, „Reutlingen ist mir teure Heimat geworden“. Dass eine Demokratie Menschen anzieht, sei gut, „denn hier leben Menschen mit Herz“. Vesenjak forderte die Demonstrierenden auf, „lasst 2024 zum Jahr des zivilen Widerstands werden“. Viel zu lang sei zugesehen worden, wie der Rechtsextremismus in Deutschland immer stärker wurde.

„Es ist nicht okay, wenn ihr AfD wählt, das ist der falsche Weg“, betonte Dusan Vesenjak. Zu den Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni forderte er: „Lasst uns diese Wahlen zu einem Referendum für Demokratie machen, sagt es den Ängstlichen, den Verzagten und den Bequemen – es geht um das Schicksal unserer Demokratie.“ Wie die anderen Redner erntete Vesenjak viel Applaus für seine Worte.

So auch Pfarrer Dr. Joachim Rückle, der Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands: „Was die AfD mit Menschen, mit der Remigration machen will, das ist purer Rassismus.“ Die AfD mit ihren Hassparolen gegen Migranten und Flüchtlinge habe zur Verschärfung  nicht nur der Debatte, sondern auch der Maßnahmen gegen Geflüchtete auf europäischer Ebene geführt.

Gleichzeitig versuche die AfD (die in drei Landesverbänden im Osten als rechtsextremistisch eingestuft wurde) „das Vertrauen in die Demokratie zu zerstören“, so Rückle. Er warb aber auch für weitere Teilnehmer an den Aktionen des „Bündnisses für Menschenrechte“, das in der Reutlinger Wilhelmstraße jeden Samstag Flagge zeigt und versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Schauspielerinnen vom Theater PatatiPatata lasen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 verabschiedet wurden – und sich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik wiederfindet. Nämlich gleich in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – das ist Demokratie“, riefen die drei Frauen der Riesenmenge auf dem Marktplatz entgegen.

Auf Schildern und Transparenten zeigten die Demonstrierenden am Freitagabend zahlreiche Parolen gegen die AfD und gegen Faschismus. Darunter „AfD ist so 1933“, „Lieber solidarisch als solide arisch“ oder „Nazis essen heimlich Döner“ und viele, viele mehr. Aber alle bezogen eindeutig Stellung gegen die rechten Umtriebe.

„Wenn die AfD an der Regierung wäre, dann würden Menschen deportiert – und viele von uns wären dann nicht mehr hier“, rief May Schäffer vom Bündnis gegen Rechts auf der Rednerbühne. Wähler der AfD seien nicht grundsätzlich faschistisch, „zwei Drittel sind von anderen Parteien enttäuscht“, so Schäffer. Die AfD verstehe aber, den aktuellen Unmut in der Bevölkerung gegen Regierungsentscheidungen für sich zu nutzen. „Wir müssen den Rechten den Nährboden entziehen, ein ‚weiter so‘ kann und darf es nicht geben.“ Notwendig sei, eine Umverteilung von oben nach unten, „statt Abschiebung braucht es Solidarität“.

Zu Solidarität und Mitmenschlichkeit forderte auch Hubert Berger auf: 55 seiner insgesamt 110 Mitarbeiter hätten keinen deutschen Pass, sie kämen aus Togo, Syrien, Afghanistan und anderen Ländern. „Ohne sie gäbe es unsere Bäckerei gar nicht mehr“, betonte der Reutlinger Biobäcker.

„Wir sollten in Flüchtlingen den Menschen sehen, von Mensch zu Mensch – es könnte so einfach sein“, betonte Berger und brachte damit die Demonstration vom 26. Januar auf dem Reutlinger Marktplatz auf den Punkt.

 

Kommentar:

Ja, es könnte so einfach sein. Wenn Menschen, so wie Hubert Berger es formuliert hatte, ganz einfach Flüchtlinge und Migranten als Menschen sehen würden. Wenn Kontakt entstehen würde. Wenn die „Bio-Deutschen“ mit Menschen aus anderen Regionen der Welt reden, sie sich kennenlernen würden. Anstatt sich abzuschotten und mit Hass und Hetze gegen Migranten und Geflüchtete zu agitieren. Als ob die Menschen, die zu uns kommen, irgendwas für unsere Probleme könnten. Und als ob diese Probleme gelöst würden, wenn in Reutlingen 42 Prozent der gesamten Einwohnerschaft plötzlich nicht mehr da wären. Dann, ihr Hassprediger und Hetzer, dann würde nämlich in dieser, unserer Wohlstandsgesellschaft gar nichts mehr funktionieren.

Der Freitag, 26. Juni 2024, war ein eindrucksvolles Zeichen gegen den Rassismus, gegen Faschismus, gegen AfD und für Menschenrechte. Doch dabei darf es nicht bleiben. Zu glauben, mit einer Demonstration sei das Problem des Rechtsradikalismus erledigt, der täuscht sich. Auch hier ist es wohl vonnöten, aufeinander zuzugehen.

Zumindest auf die von der Politik Enttäuschten. Was wäre denn, wenn die AfD tatsächlich in Regierungsverantwortung mit eingebunden würde. Oder sie womöglich sogar selbst die Regierungsmehrheit bilden könnte. Vor solch einem Deutschland graut mir. Und nicht nur mir, wie viele Tausend Menschen am Freitag auf dem Reutlinger Marktplatz (ebenso wie in Stuttgart und vielen anderen Städten in ganz Deutschland, also auch im Osten) eindrücklich gezeigt haben. Das waren ganz starke Zeichen. Doch es muss weitergehen, um die Demokratie zu verteidigen.

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