„Ein Gefühlschaos aus Hass, Liebe, Hass“ – Berichte über Alkoholabhängigkeit

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Freundeskreis Suchtkrankenhilfe im Hohbuch unterstützt Menschen, die der Alkoholabhängigkeit entkommen wollen

Während einer Suchttherapie wird alkoholabhängigen Menschen empfohlen, anschließend eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. So eine wie das Blaue Kreuz, Anonyme Alkoholiker oder auch den Freundeskreis Suchtkrankenhilfe. Im Hohbuch existiert solch ein sehr aktiver Freundeskreis schon seit mehr als 30 Jahren. „Mit dem regelmäßigen Besuch der wöchentlichen Gruppentreffen liegt die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft abstinent zu bleiben, bei rund 80 Prozent“, betont Sabine Schmelzer. Sie selbst ist alkoholkrank, seit 2016 im Freundeskreis und nun die Vorsitzende der Selbsthilfegruppe.

Eine enorme Stütze kann der Freundeskreis nicht nur für die Abhängigen sein, sondern auch für Angehörige, für Partnerin oder Partner: „Als ich damals in die Gruppe kam, konnte ich zum ersten Mal über all die Probleme reden“, sagt Maria Luik. „Ich habe ein Jahr lang gebraucht, bis ich mich in die Gruppe traute“, berichtet Brigitte Jegl, die im Jahr 2000 Hilfe beim Freundeskreis in Pfullingen fand. Auch sie war wie Maria Luik „Co-Abhängige“, ihre Männer sind trockene Alkoholiker. „Aber wir waren auch krank“, sagt Jegl heute. Allerdings hat das mit der Einsicht eine Weile gebraucht, dass sie selbst Teil dieses Alkoholsystems waren, wie Maria Luik ausführt. „Ich sollte krank sein? Es war doch mein Mann der abhängig war, dachte ich damals.“

Alle wussten Bescheid, nie hat jemand was gesagt

Brigitte Jegl sagt, dass sie sehr herzlich in der Gruppe aufgenommen wurde. „Das erste halbe Jahr habe ich dort nur geheult und alles aufgesogen, was gesprochen wurde.“ Sie fand es unfassbar, dass so viele Menschen ein Alkoholproblem haben, darunter auch Ärzte. „Aber das machte es leichter für mich“, so Jegl. Vor den Gruppenbesuchen wurden alle Probleme in der Familie – quasi unter der Decke – gehalten. Obwohl alle Verwandten, Bekannten, Freunde, Nachbarn Bescheid wussten über die Abhängigkeit ihrer Männer, „hatte nie jemand was gesagt“, erinnert sich Maria Luik. Erst als sie selbst das Problem ansprach, hieß es: „Das wussten wir schon lang.“

Ständiger Streit mit den Ehepartnern führte dazu, dass die Kinder sich voller Angst immer mehr zurückzogen. „Sie haben sich die Decke über den Kopf gezogen, wenn es wieder laut wurde“, so Luik. Der Vater war für die Kinder in dieser Zeit des Saufens nicht existent. „Er war entweder bei der Arbeit oder er schlief besoffen auf dem Sofa“, sagt Maria Luik. „Mein Mann hat nie vor anderen getrunken, er war Spiegeltrinker, ging in den Keller und kam nicht mehr als der Mann herauf, in den ich mich verliebt hatte“, sagt Brigitte Jegl.

„Als wir eines Tages von einer Feier nach Hause liefen, ist mein Mann in ein Gebüsch gefallen, ich habe damals zu unserem zehnjährigen Sohn gesagt: Lass ihn liegen“, so Maria Luik. Was musste der völlig überforderte Sohn damals über seine Mutter und über den Vater gedacht haben? „Der Kleine ist dann zum Papa zurück und hat ihn rausgezogen.“ Maria Luik war dazu nicht mehr fähig, die Verzweiflung war riesengroß. „In mir herrschte ein Gefühlschaos aus Hass, Liebe, Hass.“

Männer haben beim Freundeskreis ebenso Hilfe gefunden wie die co-abhängigen Frauen

Ähnlich erging es auch Brigitte Jegl – doch sie zog irgendwann die Notbremse. Sie ist ausgezogen, hat ihren Sohn mitgenommen und sich eine Arbeitsstelle gesucht. Die Tür hinter sich ließ sie jedoch offen. Dieser Moment war der Wendepunkt für ihren Mann. Er hörte von einem Tag auf den anderen auf zu saufen, machte aber keinen Entzug, keine Therapie, besuchte jedoch ebenfalls „diese Sekte“, wie er den Freundeskreis in Pfullingen damals nannte. Auch er fand dort Hilfe – und ist bis heute trocken. Eine unglaubliche Leistung. Genauso wie die von Karl Luik, der vor rund 37 Jahren von seinem Arbeitgeber und seinem Arzt vor vollendete Tatsachen gestellt wurde – entweder Entgiftung und Therapie oder Job- und Lebensverlust.

Dass sowohl Sabine Schmelzer wie auch Brigitte Jegl, Maria und Karl Luik so offen mit dem Thema ihres Lebens umgehen können, das verdanken sie dem Freundeskreis. „Und wir hoffen sehr, dass wir anderen Menschen mit unserer Offenheit helfen können“, betonen alle vier. „Frauen denken fast immer, dass die Abhängigkeit allein das Problem des kranken Partners ist – das stimmt aber nicht“, sagt Jegl. „Auch die Frauen tragen ihren Teil zu dem Suchtsystem bei“, hat Maria Luik erfahren müssen.

In den schlimmsten Phasen „habe ich nur noch funktioniert, bin ohne Hirn und Herz durch die Gegend gelaufen“, sagt Jegl. Sie hatte ihre Eltern im Haus, der Vater demenzkrank, dazu zwei Kinder in der Pubertät und der Mann Alkoholiker. „Seine Persönlichkeit hat sich sehr schnell verändert.“ Eigentlich sei er eine Seele von Mensch, immer für andere da gewesen. Ein Jahr nach der Trennung zog Brigitte Jegl wieder bei ihrem Mann ein. „Aber ich habe ganz klar gesagt, wenn er nur einen einzigen Tropfen Alkohol anrührt, bin ich weg, für immer.“ Als sich Maria Luik zurückerinnert, sagt sie: „Ich weiß heute, nach fast 40 Jahren, nicht, warum ich geblieben bin – ich hatte die Telefonnummer vom Scheidungsanwalt damals schon in der Tasche.“

Seitdem hat das Ehepaar Luik im Hohbuch-Freundeskreis (und auch darüber hinaus) Hunderten alkoholkranken Menschen geholfen. Karl Luik hat sich im Landes- und im Bundesverband engagiert. „Ich bin froh, wie alles gekommen ist“, sagt Maria Luik heute. Wer weiß, was aus der Familie geworden wäre, wenn das Ehepaar nicht den Schritt in den Freundeskreis gewagt hätte. Gleiches gilt auch für Sabine Schmelzer und Brigitte Jegl.

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