1. November, Feiertag, frei, 49-Euro-Ticket – wo fahren wir hin?
„Mit dem Bus zum Pfullinger Ahlsberg“, sagte Bine.
Ich dachte größer. Weiter. „Lass zum Weine hin uns fahren“, sagte ich und gab die Richtung vor.
Welch Glück, dass wir in Kirchheim am Neckar ausgestiegen waren – der Zug zielte auf der Weiterfahrt mitten hinein in den Weinberg.
WIr hingegen wandelten auf dem Neckar-Radweg, entlang der Kirchheimer Neckarschleife. Verwundert erblickten wir, wie hier die Weinberge mit einer riesigen Anzahl an Mauern gestützt werden – „welch Plackerei muss Menschenhand erlitten haben“, sinnierte ich.
Und was für schiefe, steile Treppen dort hinaufführen. Stufen ins Himmelreich.
Wenige Meter entfernt lockte der liebliche Neckar. „Magst dein Füßlein baden“, fragte ich.
Bine mochte nicht. Sie liebäugelte eher mit diesen Stairways to heaven.
Doch auf dem Radweg geriet zunächst unser Leben in Gefahr: Rasende Radler und zündende Zigarren nahmen wenig Rücksicht auf fußwandelndes Volk.
Auf diesen schändlichen Schreck hin galt es, unseren Leib zu stärken.
Damit die Seele baumeln sollte, bekamen wir Kunst und Kultur im
Weinberg obendrauf.
Welch wundersames, faszinierendes Dings, Gedöns, äh … welch herrlich Idee.
Doch dann ging’s hinauf, in Richtung Himmel.
Oben angelangt rangen wir um Atem, doch ursächlich war nicht der Mühe Last, der Blick auf die Neckarschleife nahm uns die Luft. Wie liebreizend.
Doch dann: Wie auf einen Schlag schob sich eine Schlange vor unser Angesicht.
Bine versuchte es mit Sanftmut. „Arm‘s Neckarschleifle, muschd di hier so winda“, sagte sie überwältigt von Verständnis.
Doch die Kunst schien uns zu verfolgen – oder sogar vorauszueilen: Auf einem Acker, versteckt hinter einer Hecke zeigte sich dieser Riese – und gab den Blick frei auf Neckarwestheim. Ahhhh. Das Kernkraftwerk.
Mit Strommasten, die aus Wald und Weinberg wachsen. Da war doch was, überfiel uns die Erinnerung.
Drunt‘ am Neckar war’s. Ein Gedenkstein. „Und sie bauten weiter. Trotz alledem.“
Ist das ein Widerspruch, Wein und AKW? Die FDP würd‘ sicher widersprechen. Wegen Zukunftstechnologie und so.
Doch oben auf der Anhöhe entfaltete sich die geometrisch-symmetrische Schönheit der Weinberge.
Alles voll von dem Zeug hier, Millionen Rebstöcke und
Farben, in dieser seligen Gegend.
Doch nicht nur: „Schau, hier gedeiht auch Obst, wie einst schon Hölderlin zu sagen pflegte“, zitierte ich munter drauflos. „Und Obst sogar unter Gardinen.“ Ich bemühte mich sehr, nicht allzu wissend zu klingen. „Klugscheißer“, sagte Bine.
Aber: Warum nur, liegt das Obst hier wehrlos am Boden und siecht seiner Verwesung entgegen?
Und was ist mit diesen Reben passiert? Von Vögeln verfressen?
Apropos Hölderlin: Hier erblickte der Pöt (tschuldigung) der Poet das Licht der Welt. Unterhalb dieser wunderbaren
Weinterrassen. In Lauffen. Mit dem Wahrzeichen der
Regiswindiskirche (die heißt wirklich so). Von weither ist ihr nicht sehr spektakuläres Haupt zu erblicken.
Aber auch aus der Näh‘, fast verschämt scheint sie den Turm über des Weines Reben zu recken oder
auch über dies Laubwerk dieses grandiosen Genossen der Gattung Baum.
Nicht zu vergessen, der Neckar, der sich durch das Städtchen
Lauffen ergießt.
Oh, dabei vergaß ich fast, ich nichtsnutziger Wicht, es zu erwähnen: das Haus des Hölderlin. Beziehungsweise seines Opas. Eröffnet anno domini 2020. Bis dahin ward es renoviert. Ein Kaffee im Café mit Milchschaum erfreute heute, am 1. November 2023, unseren Geist.
Oh, schau nur – Hölder blickt auch heute noch auf uns. (ein kleiner Scherz zur Ermunterung Eures Gemüts) Aber nicht weit entfernt ward Hölder denkmaltechnisch gedacht:
Quasi in die Wand zementiert. „Ich hab gewusst es doch schon lang“, rief ich. „Seliges Land, kein Hügel in dir wächst ohne den Rebstock“, hatte der alte Hölder doch gesagt.
Wir pilgerten weiter, trafen auf Diotima (Hölders heimliche Geliebte) – und die Figur aus seinem Liebes-Gedöns.
Also zumindest hat Peter Lenk die Diotima so gesehen. Ihr wisst schon: Lenk, der Peter, mit der Figur im Konstanzer Hafen. Wie war ihr hochwohlgeborener Name? Europa? „Imperia“, sagte Bine. „Und der Diotima
hätte man ja wenigstens ein Blatt vorhalten können.“
So weit hat Peter Lenks Gedankengang wohl nicht gereicht. Aber: Zum Wohlgefallen der Lauffener hat er diese Figurengruppe zu Ehren von Hölderlin gestaltet.
Was sonst noch zu sagen bliebe über diesen wundervoll-unvergesslichen Tag? Volle Punktzahl. Fünf von fünf Rebstöcken für diese landschaftlichen Erlebnisse. Und fünf Weinflaschen für die Zugbekanntschaften, derer wir gewahr wurden. „Einfach schee“, sagte Bine. Ich stimmte uneingeschränkt zu. Nicht halb so viel hätten wir erleben dürfen, wenn wir uns mit dem Auto durch den Stau gestaut hätten.