Am Donnerstag, 31. August, sind wir aufgebrochen, um in die Bretagne zu fahren. Wir hatten uns gedacht, dass wir ungefähr auf der Hälfte einen Zwischenstopp einlegen – wir landeten in Orléans.
Die Fahrt dorthin war problemlos, verlief deutlich ruhiger, als wir uns das im Vorfeld vorgestellt hatten. Übernachtet haben wir in der Jugendherberge, Auberge de jeunesse.
Bine war das ziemlich unangenehm – bis zu dem Moment, als sie realisierte: Wir waren gar nicht die Ältesten in dieser vermeintlich jugendlichen Herberge. Ganz im Gegenteil: Der Großteil der Gäste präsentierte sich in unserem Alter. Oder noch älter. Was aber nicht hieß, dass die Nachtruhe dort penibel eingehalten wurde, bis weit nach Mitternacht saßen irgendwelche Leute vor der Juhe, um sich dort ausgiebig, in fröhlicher Lautstärke zu unterhalten. Und anschließend Türenschlagend ins Bett zu gehen. Ein paar wenige Kleinkinder vervollständigten das kakofonische Hörerlebnis. Für uns bedeutete das eine schlaflose Nacht.
Orléans selbst erlebten wir als nette Großstadt, zumindest den alten Teil davon – der zufälligerweise nur wenige Meter von der Jugendherberge entfernt war. Wir verbrachten den Freitag dort. Viele nette, schnuckelige, kleine Gassen,
mit einigen ansprechenden Fachwerkhäusern. Die Kathedrale riesig,
sehr pompös, unglaublich hoch. Dazu kamen viele andere Kirchen und natürlich – Jeanne d’Arc, die Statue
und ein kleines Museum in einem alten Fachwerkhaus, in dem sie mal Gast gewesen sein soll. Vermutlich in jener Zeit, als sie im Alter von etwa 17 Jahren zusammen mit einem kleinen Trupp die Stadt Orléans von den Engländern befreit. Vorher soll sie „göttliche Visionen“ gehabt haben. Wir gingen in das Haus hinein, wurden gefragt, ob wir einen Film auf Englisch oder Französisch über die „Jungfrau von Orléans“ sehen wollten – wir entschieden uns für Englisch. Was aber auch nicht viel half: Wir bekamen die historischen Daten mit einer Visualisierung um die Ohren gehauen, dass uns Hören und Sehen verging. Und das alles für sechs Euro. Pro Person. Nach einer Viertelstunde waren wir so schlau wie vorher. Und in dem Haus gab es nichts anderes zu sehen, als diesen Film. Egal.
Vorher sind wir in der Nähe des Jeanne d’Arc-Denkmals von einem Franzosen angesprochen worden, ein sehr freundlicher Orléanser oder wie die Ureinwohner dort heißen. Er fragte uns sofort, wo wir herkämen. Offensichtlich hatte er uns aufgrund unserer orientierungslosen Haltung sofort als Tourist eingestuft. Holland? Non? Ah, allemand. Er könne leider kein Deutsch, war nur einmal auf dem Frankfurter Flughafen auf dem Zwischenstopp von Paris nach Mexiko. Aber Deutsch spreche er deshalb nicht. 32 Jahre war er in Orléans am Theater angestellt, als Schauspieler? Nein, er war offensichtlich für alles zuständig, vom Telefonieren, bis zum Vesper besorgen für die Akteure. Doch dann – Sparmaßnahmen. Er verlor seinen Job.
Übrigens würden viele Pariser nach Orléans ziehen, weil die Mieten und Preise dort deutlich geringer seien als in der Hauptstadt. Außerdem: Anne Hidalgo, die Pariser Bürgermeisterin, die sei doch Sozialistin, schrecklich, und dann kommen ja die Olympischen Spiele nach Paris. Die Studentenwohnungen würden gebraucht für all die Gäste und Sportler, die Preise für Mieten und Wohnungen würden noch viel mehr durch die Decke schießen. Unglaublich. Abschließend lobte er uns für unser Französisch – wir lachten laut auf, schließlich hatten wir nicht viel mehr als drei bis fünf Worte gesagt. Wir bedankten uns aber überschwänglich für seine Ausführungen.
Gewundert hatte ich mich allerdings schon, dass ich so viel verstanden hatte. Am gleichen Tag wurden wir in einer anderen Kirche der Kathedrale noch von einem Franzosen angesprochen, der uns die Kirche erklärte – wir haben nicht viel mehr als zwei bis drei Worte verstanden. Was uns noch an Orléans aufgefallen ist?
Das wenige Wasser in der Loire und die gleichzeitigen Hochwasserstände aus vielen Jahren seit Jahrhunderten, die an Häusern eingeritzt waren.
Dazu dann noch die Jogger am Loire-Ufer entlang. Dutzende, Hunderte, halb Orléans, egal welchen Alters, Männer, Frauen, Kinder, alle schien auf den Füßen zu sein. Wir waren verblüfft und erstaunt, dass die Franzosen so ein sportliches Völkchen zu sein scheinen. Und ich sage euch was – kaum waren wir in unserer Unterkunft hier in der Bretagne bei Guidel angekommen, nur wenige Meter vom Strand entfernt, was stach uns dort ins Auge? Jogger. Dutzende, Hunderte. Beim Blick in Richtung Strand rennen sie in beide Richtungen hin und her. Keine Minute vergeht, ohne dass dort Joggerinnen und Jogger zu sehen sind. Gestern Abend sogar mit Beleuchtung, also mit Stirnlampen, die dort unten auf- und abwippten. Dazu noch die unzähligen Radler, die dort auf der Straße unterwegs sind.
„Das ist ja nicht auszuhalten“, sagte ich zu Bine. „Sind alle Franzosen jetzt auf dem Sport-Gesundheits-Tripp?“ Ich hegte schon die Vermutung, dass die alle engagiert wurden, um uns ein schlechtes Gewissen einzupflanzen. Los, bewegt euch! Nichts anderes scheinen sie uns entgegenzuschreien. Joggt mit! Hängt nicht so faul in eurem Sessel herum. An unserem ersten vollen Urlaubstag in der Bretagne stimmte Bine mir heute Morgen beim Blick aus unserem Wohnzimmer-Terrassen-Fenster zu – noch bevor wir überhaupt gefrühstückt hatten. „Unerträglich“, sagte sie. „Wenn die so weitermachen, müssen wir entweder auch joggen gehen oder die Rollläden runterlassen.“ Fast zeitgleich vermeldeten die (schwäbischen) Radio-Nachrichten, dass Olaf Scholz nicht beim Wahlkampfauftakt in Hessen auftreten könne – weil er beim Joggen gestürzt war. „Da haben wir’s doch wieder“, sagte ich. Bine und ich sahen uns an und mussten beide herzhaft lachen.