Rund 100 Vertreterinnen und Vertreter von Klinischen Ethik-Komitees aus dem ganzen Land waren zu Gast in der Pfullinger Akademie der Kreiskliniken Reutlingen
„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Vertreterinnen und Vertreter der Kliniken aus dem ganzen Land kommen“, sagte Dr. Frank Andres am vergangenen Donnerstag an der Akademie der Kreiskliniken Reutlingen in Pfullingen. Getroffen haben sich dort Ärztinnen, Pfleger, Pfarrerinnen, Klinikpersonal – „heute sind sogar Marketingleute da“, freute sich der Vorsitzende des Ethik-Komitees an den Reutlinger Kreiskliniken. Hauptberuflich ist Andres Chefarzt der Neurologie – ebenso wie Holger Bertram-Schur ist ihm die Arbeit im Bereich der Ethik an den Reutlinger Kreiskliniken sehr wichtig.
Bertram-Schur ist Pfleger auf der Intensivstation – eine Tätigkeit, die besonders während der Pandemie noch viel mehr als sonst gefordert war. Um genau diese Erfahrungen ging es auch am Donnerstag bei dem Landestreffen: Die „Ethikerinnen und Ethiker“ aus den Kliniken haben sich mit der Frage beschäftigt, was sie und die Kliniken aus Corona gelernt haben. Und was nicht.
Eines sei bei allem jedoch wichtig: „Grundsätzlich muss betont werden, dass die Ethikberater an den Kliniken genau das tun, was der Name schon sagt – sie beraten“, so Frank Andres. „Wir sprechen maximal Empfehlungen aus, treffen aber keine Entscheidungen“, ergänzte Bertram-Schur im Pressegespräch.
Wie und wann die „Ethiker“ benötigt und gerufen werden? „Patienten oder auch Angehörige, Pflegekräfte oder Mediziner können uns rufen, uns um Rat fragen“, so Andres. Wenn es etwa darum geht, bestimmte Anwendungen oder Maßnahmen zu ergreifen – wie Magensonden, Chemos, Herz-Lungenmaschinen, gerade, wenn schwere Krankheiten Menschen plagen, wenn es dem Lebensende zugeht – dann könnte der ethische Rat von Ärzten, Pfarrerinnen, Pflegepersonal vielleicht hilfreich sein.
„Wenn etwa ein älterer Mensch einen größeren Schlaganfall hatte, Sprachstörungen, schwere Lähmungen zurückbleiben, dann gucken wir, ob eine Patientenverfügung vorhanden ist – wir sind verpflichtet, das zu tun, was die die Menschen wollen“, betonte der Arzt. „Wir stehen zur Verfügung und versuchen, alles möglichst gut für die Patienten zu regeln.“
Solch ein Ethik-Komitee berate nach sogenannten Prinzipien: „Wir wollen dem Patienten möglichst gut helfen, dürfen nicht schaden, wir müssen den Willen der Patientin würdigen, aber auch berücksichtigen, was eine bestimmte Entscheidung für andere bedeutet“, erläuterte Andres. Wenn jemand trotz sehr schlechter Aussichten, auch das fünfte, siebente oder zehnte Chemomittel noch kriegen will, dann könnte es sinnvoll sein, mit dem Patienten darüber zu sprechen.
Eine wichtige Frage der Ethik war während der Corona-Pandemie die der Triage – also der Entscheidung darüber, wer bei einer begrenzten Anzahl an Beatmungsgeräten die lebensnotwendige Hilfe erhält. Und wer nicht. „Wir haben während der Pandemie einen Algorithmus entwickelt, der im Fall der Fälle angewandt werden sollte“, berichtet der Ethik-Komitee-Vorsitzende. Es sei glücklicherweise nicht notwendig gewesen, etwa einem älteren Menschen mit einigen schweren Vorerkrankungen ein Beatmungsgerät wegzunehmen und für einen jüngeren, gesünderen zur Verfügung zu stellen. „Stattdessen haben wir in den Corona-Hochphasen Patienten in andere Kliniken verlegt, die noch Kapazitäten freihatten, wir haben aber auch andere Patienten bei uns aufgenommen.“
Viel Aufwand sei das gewesen, „viel Nachdenken, viel Papier, um auch unter Zeitdruck in den Kliniken die richtigen Entscheidungen treffen zu können und alles richtig zu machen“, berichtete Frank Andres. Aber eines sei sicher: „Das war nicht die letzte Pandemie, deshalb ist es beim nächsten Mal sinnvoll, geregelte Abläufe zu haben.“ Allerdings bewegte die Ethik-Vertreterinnen und -Vertreter am Donnerstag auch die Frage, was bei der nächsten Pandemie besser gemacht werden könnte.
„Wir waren als Ethikberatern während Corona jeden Tag auf der Intensivstation, fragten nach, was zu besprechen sei, haben die Stimmung mitgekriegt, konnten unterstützen und beraten“, waren sich Andres und Bertram-Schur einig. Der Druck sei dennoch enorm hoch gewesen, auf das gesamte Klinikpersonal. „Wir müssen auch heute professionell an die individuellen Fälle rangehen, um uns nicht von Gefühlen wegschwemmen zu lassen“, betonte Frank Andres.
Wichtig sei dieses regelmäßige Treffen der Ethik-Komitee-Mitglieder aber vor allem auch, um sich gegenseitig auszutauschen, voneinander zu lernen. Klar müsse aber auch immer sein: „Manchmal gibt es bei Beratungen auch keine Einigkeit, wir sind keine Richter“, sagte Andres.