Es fährt kein Zug nach Nirgendwo

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Mannmannmannmann. Was war das nervig. Um 4 Uhr mitten in der Nacht bin ich aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen.

Ist das schon senile Bettflucht? Egal. Um halb 7 Uhr musste ich eh raus. Mit Bus und Zug bin ich dann nach Tübingen zum Landgericht gefahren, die Fortsetzung eines Totschlag-Prozesses stand an. Eigentlich sollten die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger kommen. Zunächst hatte Letzterer noch drei Zeugenvernehmungen beantragt. Alle drei wurden vom Gericht abgelehnt – allerdings hatten sich die Richterinnen und Richter dazu eine halbe Stunde zur Beratung zurückgezogen. Nachdem sie den Beschluss bekanntgegeben hatten, wäre der Staatsanwalt an der Reihe gewesen. „Ich bin gestern Abend bis um 22 Uhr an der Vorbereitung gesessen, ich könnte das Plädoyer jetzt halten – aber es wäre noch etwas holprig“, sagte der Mann. Das Gericht beschloss daraufhin, die Sitzung zu vertagen.

Na toll, dachte ich. An die Presse denkt mal wieder kein Mensch. Völlig umsonst bin ich nach Tübingen gefahren. Weil ja nichts passiert war, konnte ich auch nichts schreiben. Super. Naja, wenigstens komme ich noch ziemlich früh am Morgen wieder nach Hause. Dachte ich. Am Bahnhof erwartete mich um kurz vor 10 Uhr jedoch eine ziemlich kuriose Situation: Die Anzeige spielte offensichtlich verrückt, da standen nur Züge drauf, die zwischen 8 und 9 Uhr fahren sollten. Oder gefahren sind? In der Bahn-App fand ich aber: Um 10 Uhr 16 fährt der nächste Zug nach Bad Urach (mit Halt in Reutlingen). An Gleis 1 zeigte die Anzeige: 7 Uhr 46 Zug nach Bad Urach. Ich fragte einen irgendwie nach Bahn aussehenden Mann, der gierig an seiner E-Zigarette zog. „Ja“, lachte er. „Die Anzeige stimmt nicht.“ Und überhaupt gehe gerade gar nichts. „Stellwerkstörung“, sagte er. „Alle Signale stehen auf Rot.“

Hm, dachte ich. So lang wird das ja nicht dauern, bis der Fehler gefunden ist. Wie man sich doch täuschen kann. Ich setzte mich in den Zug. Und wartete. Nach einer Viertelstunde stieg ich wieder aus, dachte, vielleicht fährt ja auf einem anderen Gleis ein Zug nach Reutlingen. Auf der Anzeige im Bahnhofsgebäude stand tatsächlich einer, der nach Heilbronn und Osterburken (wo immer auch Osterburken sein mag) fahren sollte. Auf Gleis 2. Doch an besagtem Bahnsteig – keine Spur von einem Zug. Auf Gleis 2A stand einer, allerdings irgendwie fernab vom Geschehen. Und er wirkte auch ziemlich leblos, die Türen ließen sich nicht öffnen. Also wieder zurück. Nochmal an Gleis 1 einen Bahnbeschäftigten fragen. Da erklang eine Durchsage aus dem Lautsprecher: „Wegen der Stellwerksstörung fällt der gesamte Zugverkehr im Moment aus.“ Na prima.

Plötzlich grinst mich ein Gesicht an. „Na, auch liegengeblieben“, fragte mich ein Kollege und begann sofort über seine Bahnerlebnisse auf der Strecke Tübingen-Schwäbisch Gmünd zu berichten. Außerdem: „Das ist ja nicht das erste Mal, dass es hier in Tübingen Stellwerkprobleme gibt“, sagte er. Das letzte Mal habe er eine Dreiviertelstunde gewartet. Die war nun fast erreicht. Wir setzten uns in den Zug an Gleis 1, der sich in der vergangenen Stunde noch keinen Millimeter bewegt hatte, aber laut Anzeige mal nach Horb hätte fahren sollen, dann nach Herrenberg, danach wieder nach Bad Urach. Plötzlich kam mir ein Lied aus den Anfängen der 1970er Jahre in den Kopf: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo.“ Seltsam, oder? Von Michael Holm war das. Oder Cindy und Bert? Nee. Egal.

Der Zug hier fuhr auf jeden Fall überhaupt nicht. „Sollen wir es doch mal auf einem anderen Gleis probieren“, fragte mich mein Kollege. Ja, warum nicht. Oder doch zusammen ein Taxi nehmen? „Das kostet ja mindestens …“ ich hatte keine Ahnung. „Also das kostet ja schon innerhalb von Reutlingen mehr als 10 Euro, dann würde das von Tübingen nach Reutlingen … also … mindestens 20 Euro kosten“, stammelte ich. Wir verfolgten das Thema erstmal nicht weiter. (Soeben habe ich im Internet nachgesehen: Einfache Fahrt 47,70 Euro. Da bleibt einem doch die Spucke weg.)

Der Kollege hatte einen Termin in Reutlingen um 11 Uhr schon abgesagt, wir waren ja immer noch gestrandet am Bahnhof Tübingen. Vielleicht sollte ich auch ein Lied über meine Erlebnisse schreiben? „Ich stehe hier am ersten Gleis, bin wohl gestrandet, ach, so ein Sch …“ Da müsste ich vielleicht noch ein wenig dran feilen. Dann eine Durchsage im Zug: „Hier spricht der Zugführer: Im Moment geht immer noch gar nichts, Stellwerksstörung, der Computer ist abgestürzt, tot, alle Signale sind rot, wir hoffen mal, dass wir um 11 Uhr 16 nach Bad Urach fahren können – allerdings glaube ich nicht wirklich daran“, sagte der arme Mann.

Okay. Mittlerweile war unsere Geduld schon ziemlich strapaziert. „Sollen wir doch ein Taxi nehmen, jeder 10 Euro“, fragte ichals  Unwissender. „Wahrscheinlich gibt es gar kein Taxi mehr, weil wir ja nicht die Einzigen sind, die auf die Idee gekommen sind“, so der Kollege.

Fast hätte ich vergessen, dass wir zwischendrin auch noch am Busbahnhof nachgeschaut haben, ob nicht vielleicht ein Bus nach Reutlingen fährt. Tatsächlich stand an einem Bussteig deutlich „Reutlingen“ zu lesen – aber es gab keinen Fahrplan. Und in der Naldo-App fanden sich nur Züge. Die ja aber nicht fuhren.

„Okay, jetzt reicht’s – Taxi“, hatten Kollege und ich fast gleichzeitig beschlossen. Immer noch in der irrigen Annahme, dass wir jeder 10 Euro zu zahlen hätten. Wir verließen den Zug, der immer voller wurde. Gerade wollten wir die Treppe vom Bahnsteig hinunter betreten, da ertönte eine weibliche Stimme: „Bitte steigen Sie sofort in den Zug nach Osterburken ein.“ Oh. Ein Wunder? Die Zugtür wollte schon schließen, da sprangen wir gerade noch rechtzeitig hinein.

Kaum saßen wir, setzte sich auch die Bahn … in Bewegung. Applaus brandete auf, ich klatschte kräftig mit. „Sonst passiert das doch nur in Flugzeugen, wenn die Landung geglückt ist“, sagte der Kollege. Wir erreichten Reutlingen im Schritttempo. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht traute der Lokführer dem ganzen Frieden auch nicht so recht und er ist lieber extrem vorsichtig gefahren. Den Blick stur geradeaus auf das eigene Gleis gerichtet – nicht dass genau dort ein Zug entgegenkäme. Doch es kam überhaupt keiner. Auch nicht auf dem anderen Gleis.

Was für ein Gefühl, als wir in Reutlingen aus dem Zug stiegen. Mein Kollege hatte gemeint, ob wir jetzt den Boden küssen sollten, wie einst Papst Dings, na, der eine halt, der überall auf der Welt den Boden geküsst hatte. Angesichts des Zustandes der Bahnhofsböden – egal, ob in Tübingen oder Reutlingen – stimmte ich einigermaßen angewidert dem Ansinnen nicht zu.

Stattdessen ging ich zur Bushaltestelle. Mein Bus sollte drei Minuten Verspätung haben. Pah, dachte ich. Was für ein Luxus, nachdem ich in Tübingen 1,5 Stunden verzweifelt auf den Zug gewartet hatte. „Jetzt stell dir mal vor, ich wäre morgens mit dem Auto nach Tübingen gefahren“, sagte ich abends zu Bine, als ich in aller Ausführlichkeit von meinen Erlebnissen berichtet hatte. „Dann hätte ich ja gar nichts zu erzählen gehabt.“

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