Der röhrende Hirsch

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Wenn Ihr wirklich mal viel Zeit habt und vielleicht sogar kunstinteressiert seid und auch noch Humor habt, dann empfehle ich Euch die folgende Hausarbeit. Die habe ich 1993 in meinem ersten Studiensemester geschrieben. Das Fach hieß „Ästhetik“ und forderte mich zu der folgenden Bildbetrachtung heraus.

Ja, ich gestehe und oute mich selbst – ich habe einen „röhrenden Hirsch“ in meiner Wohnung hängen. Ich bekenne mich schuldig, diesen Ölschinken in seinem wuchtigen, verschnörkelten und goldverzierten Rahmen eine meiner vier Wände verunstalten zu lassen. Könnte ich nur Pierre Bourdieu glauben, der behauptete, es gäbe keinen schlechten Geschmack, da alle drei Geschmacksklassen gleichwertig nebeneinander auf der gleichen Stufe stünden. Doch getraue ich mich mittlerweile nicht einmal mehr, dieses Meisterwerk auch nur verbal zu erwähnen, geschweige denn mitzuteilen, dass ich solch ein Gemälde besitze. Mitleidige Blicke waren bisher noch die freundlichsten Reaktionen. Weitergehende Äußerungen diffamierten meinen „Hirsch“ als durch und durch kitschigen Irrläufer der Ästhetik, ja, als einen Ausbund an schlechtem Geschmack. Nein, nicht einmal dabei wurde es belassen, sondern sogar vielmehr noch – von vermeintlich kompetenter Seite – als „geschmacklos“ tituliert. Im Lingen-Lexikon sind zum Thema Kitsch – und damit in den Augen vieler, zu meinem „röhrenden Hirsch“ – folgende Zeilen zu finden:

Kitsch (vielleicht von engl. Sketch „Skizze“; Bismarckzeit) Sammelbegriff für geschmacklose und sich als Kunst ausgebende Erzeugnisse der Malerei, der Plastik und Architektur, des Kunstgewerbes, der Literatur, der Musik und des Films, die in sich unwahr sind, da sie Schönheit durch Glätte, Empfindung durch Rührseligkeit, Größe durch Pose und hohles Pathos, Tragik durch Sensation ersetzen oder ihr durch ein happy end ausweichen. Das Urteil darüber bleibt individuell und zeitgebunden. Nicht selten betrachtet schon die jüngere Generation als Kitsch, worin die ältere echte Gestaltung sah.

So so. Geschmacklos, unwahr, glatt, rührselig, hohles Pathos … Muss ich mir jetzt diesen Schuh anziehen? Diese Infamie, di meinen Geschmack zu einem verachtungswürdigen Nichts degradiert? Doch, einen Moment, wie heißt der vorletzte Satz dieser Definition? Das Urteil darüber bleibt individuell und zeitgebunden. Na, da haben wir’s doch – individuell und zeitgebunden. So ist jegliche Titulierung als Kirsch immer eine durchweg subjektive Äußerung, die zwar eine Wertaussage abgibt, aber immer im Zusammenhang mit dem Verurteiler gesehen werden muss. Vielleicht sollte dieser Definitionssatz dann folgendermaßen lauten: Das Urteil darüber bleibt individuell, zeitgebunden und weist vor allem und zuerst einmal auf die hoch erhobene Nase desjenigen, der es äußert. So, damit hätten wir die Verhältnisse ein wenig zurechtgerückt und ich werfe einmal einen Blick ind en Brockhaus, was der über den Begriff Kirsch von sich zu geben hat:

Kitsch wohl zu mundartilich kitschen – „streichen“, „schmieren“, „zusammenscharren“, also eigtl. „Geschmiertes“, … Ja, wie? Das Lingen-Lexikon behauptet doch, der Ursprung des Wortes käme aus dem Englischen sketch „Skizze“. Wenn sich nicht einmal die Lexika einig sind, kann ich selbst ja auch noch eine Vermutung anstellen, wo der Ursprung des Wortes Kitsch zu suchen ist. Kitsch – das klingt wie englisch Küche = kitchen. Also:

Kitsch aus dem engl. Von kitchen sink drama: drama in GB … portraying working-class family life, showing political, social and educational awareness ( aus dem Oxford Advanced Learner’s Dicitionary of Current English). Durchaus passend und sehr treffend. Damit wäre Kitsch nicht nur der Schicht zugeordnet, in der er am meisten Verbreitung findet, sondern auch gleichzeitig noch, im Zusammenhang mit Kitsch, das politische, soziale und Bildungsbewusstsein der Arbeiterklasse auf die richtige – unterste – Stufe gerückt. Doch nun genug der Definiererei – nur eines würde mich noch interessieren: Was unser neuzeitlicher, gesellschaftskritischer Vordenker der Nation Theodor W. Adorno in Minima Moralia  zu diesem Thema zu sagen hat?

Den Unvorbereiteten erschrecken angehäufte Hausgreuel durch ihre Verwandtschaft mit den Kunstwerken. Noch der halbkugelförmige Briefbeschwerer, der unter Glas eine Fichtenlandschaft mit der Unterschrift „Gruß aus Bad Wildungen“ trägt, mahnt in etwas an Stifters grüne Fichtau, noch der polychrome Gartenzwerg an einen Wicht aus Balzac oder Dickens. Schuld sind weder bloß die Sujets noch die abstrakte Ähnlichkeit allen ästhetischen Scheins überhaupt. Albern und unverhohlen vielmehr spricht die Existenz des Schunds den Triumph aus, daß es den Menschen gelang, von sich aus ein Stück dessen noch einmal hervorzubringen, worin sie sonst als Mühselige gebannt sich finden, und den Zwang der Anpassung symbolisch zu brechen, in dem sie selber schaffen, was sie fürchteten; … Was den Menschen in Schauer verhielt, wird zu seiner eigenen verfügbaren Sache. Bilder und Bildchen haben gemein, daß sie die Urbilder hantierbar machen. …  Am Ende ist die Empörung über den Kitsch die Wut darüber, daß er schamlos im Glück der Nachahmung schwelgt, die mittlerweile vom Tabu ereilt ward, während die Kraft der Kunstwerke geheim stehts noch von Nachahmung gespeist wird. … Was dem Bann des Daseins, seinen Zwecken entrinnt, ist nicht das protestierende Bessere, sondern auch das zur Selbstbehauptung Unfähige, Dümmere. Diese Dummheit wächst an, je mehr autonome Kunst ihre abgespaltene, vorgeblich unschuldige Selbstbehauptung anstelle der realen, schuldhaft herrischen vergötzt. Indem die subjektive Veranstaltung als gelungene Rettung objektiven Sinnes auftritt, wird sie unwahr. Dessen überführt sie der Kitsch; seine Lüge fingiert nicht erst Wahrheit. Er zieht Feindschaft auf sich, weil er das Geheimnis von Kunst ausplaudert und etwas von der Verwandtschaft der Kultur mit den Wilden. …

Amüsiert und tief beruhigt lehne ich mich in meinem Sessel zurück und betrachte verzückt den „Hirsch“. Kitsch als Triumph, Kitsch als Wahrheit, als Retter der Kunst überhaupt – habe ich es nicht schon immer gewusst oder zumindest geahnt? Mit stolzgeschwellter Brust streichen meine Augen über das Meisterwerk, nüchtern, aber bewusst und überzeugt sage ich leise zu meinem geliebten „Hirsch“: „Kitsch.“ In Zukunft werde ich über die zu erwartenden abwertenden Blicke oder Äußerungen meiner Mitmenschen bezüglich des Bildes nur mitleidig schmunzeln können. Endlich werde ich es hängenlassen können, wo es hängt und nicht, wie sonst immer ständig herunternehmen müssen, wenn Besuch angesagt war und ich unsachliche, ungerechtfertigte Kritik über meinen Geschmack zu befürchten hatte. Selbst meine Kenntnisse über die Hintergründe des „röhrenden Hirsches“ hätten mir bisher nicht geholfen, da die Kritiker in dem Gemälde kein solches sehen, sondern einfach nur einen billigen, dutzendfach gefertigten Abklatsch, ein stümperhaftes Plagiat, ein Malen-nach-Zahlen-Bildchen – ganz einfach Kitsch, im negativsten Sinn seiner Bedeutung.

Was nützte es mir bisher, wenn ich wusste, dass mein Gemälde (so wie jeglicher Kitsch) seine Ursprünge in der „anerkannten“ Kunst hat? Es interessiert doch niemand, dass der „röhrende Hirsch“ aufgrund seiner Maltechnik und Thematik eigentlich ein monistisches Werk ist. Dass durch die Abkehr vom Dualismus, von der Romantik, der Bezug zum Übernatürlichen, zum Jenseits plötzlich, zum Entsetzen aller Kunstverständigen, außer Acht gelassen wurde. Dass die Künstler des Monismus sich ganz dem Hier und Jetzt widmeten, eine andere Betrachtung des Raumes vornahmen, nunmehr nur noch einen Ausschnitt der Realität abbildeten.

Zugegeben, ein Stück Realität, das jegliche Problematik vor der Tür stehen ließ. Aber ist das verwunderlich, in den damaligen Zeiten der beginnenden und fortschreitenden Industrialisierung, der einen extremen Wandel in den Gesellschaftsstrukturen bedeutete? Kann es jemand den Malern von Naturmotiven vorwerfen, dass sie sich zurück zum Ursprünglichen wandten, von Eisenbahn, Fabriken, Maschinen und dem daraus entstehenden Massenelend bewusst Abstand hielten, weil sie sich davor fürchteten und aufgrund dessen die Zeit vor der Industrialisierung idealisierten? Vielleicht ist dies der Grund, warum das Motiv des röhrenden Hirsches nie an Aktualität verloren hat und so beliebt ist wie eh und je. Eine Rückbesinnung auf die Natur, auf die alten Zeiten, in denen noch alles scheinbar in Ordnung, das tägliche Leben von dem stetigen Kampf um die Stufen auf der Karriereleiter bestimmt war, sich nicht alles um Ellenbogen-einsetzen, Geld und Konsum drehte und ein Mensch noch ein Mensch und nicht Teil einer Maschine sein konnte.

Mich stört es ganz und gar nicht, wenn jegliche Problematiken auf derm Gemälde ausgespart werden. Bei der Betrachtung kann ich mich immer wieder so richtig schön eintsptannen und abschalten. Oder soll ich mir vielleicht die ganze Zeit bewusst machen, dass der tiefgrüne Wald, vor dem der Hirsch sich präsentiert, zum Tode verurteilt ist? Oder dass der Hirsch verzweifelt über eine sechsspurige Autobahn hinweg versucht, seine ausgewählte Hirschkuh anzuröhren? Das infernalische Getöse, der mit 240 km/h vorbeirasenden freien deutschen Bürger zu übertönen?

Nein, nein, lieber ergötze ich mich an dem Anblick des majestätischen Geweihträgers, der röhrte und die Hirschkühe kamen gelaufen. Das waren noch Zeiten, als die Rollenverteilung noch klar und eindeutig, ein Mann noch ein Mann und eine Frau eine Hausfrau, Geliebte und Mutter war. Da wusste doch wenigstens jeder und jede, woran sie sich halten hatten. Heutzutage, mit dieser immer weiter voranschreitenden Emanzipation, die von Frauen und Männern eine Abwendung von altbekannten Verhaltensmustern und Idealen fordert, schweben nicht nur viele Männer im luftleeren Raum. Kein Wunder, dass die Menschen verunsichert sind, von Sinnentleerung sprechen. Woran sollen sie sich denn orientieren, wenn die alten Muster verworfen und die neuen abstrakt und nicht erprobt sind?

Jetzt habe ich aber endgültig genug von dieser elenden Grübelei über mein innig geliebtes, heiß verehrtes und angebetetes Gemälde, zu dem ich – Adorno sei dank – un endlich stehen kann, es nicht mehr vor meiner Umwelt und meinen Mitmenschen verstecken muss. Vorbei ist es nun mit dem Klassenkampf mit anderen Mitteln, den ich laut Bourdieu seit Erwerb des „Hirsches“ ausgetragen habe, mich für meinen Geschmack schämte und den der sogenannten modernen Kunst mit abfälligen Bemerkungen bedachte, jawohl, um mich abzugrenzen, um durch die Abwertung des Anderen, meinen eigenen Geschmack höher zu bewerten. Richtig, es liegt hauptsächlich daran, dass ich die moderne Kunst nicht verstehe, nicht verstehen kann und wohl auch nicht will. Aber sind die „Kunstwerke“ von zum Beispiel Joseph Beuys ästhetisch wertvoll? Sind sie eine Wohltat für das Auge, ein schön anzuschauendes Objekt? Es muss etwas anderes dran sein, wenn in einem ansonsten kahlen Raum auf dem Fußboden drei kleine Bäume, tot, ohne Äste, zum großen Teil ohne Rinde, liegen, und über ihre Füße ein Stapel von rund 20 quadratischen Filzmatten. Name des „Kunstwerks“: Wärmender Schnee. Ich kann nun beginnen zu interpretieren, den Filz als Schnee, der die Füße, also die Wurzeln der Bäume bedeckt, sie wärmt, dafür sorgt, dass scheinbar Totes wieder zum Leben erwacht, im Frühjahr, wenn der Saft des Lebens wieder durch die Adern der Bäume fließt. Oder weitergedacht, auf den Menschen, auf jegliches Leben bezogen: Es ist nie zu Ende, es geht immer weiter, aus Gestorbenem, Totem entsteht etwas Neues, Lebendiges. Sowohl bei den Pflanzen wie auch bei den Tieren und Menschen. Die ist zugegebenermaßen Beuys ureigenste Interpretation, von der sicherlich jeder Mensch abweichen kann. Genausogut könnte ich meine eigene Interpretation anführen, wie zum Beispiel, dass abgestorbene Bäume dem Menschen dazu dienen, Feuer zu machen, also Wärme zu erzeugen. Diese Wärme hilft ihm, den Winter mit Schnee und Kälte zu überleben. Fertig, Schluss, Aus – ohne metaphysischen Hintergrund. Aber dies ist wohl auch nicht Sinn und Zweck der Kunst – genau die Interpretation des Künstlers selbst zu treffen, sondern eher sich überhaupt Gedanken über das Kunstwerk zu machen, sich damit zu befassen und so schlussendlich auch mit sich selbst und seiner Umwelt.

Die Frage ist nur, ob ich dazu Kunstwerke brauche. Ich kann doch auch ohne Kunst über mich und meine Umwelt nachdenken, da genügt ein Blick auf die Straße, aus dem Fenster. Vielleicht sind die Kunstwerke nur Aufhänger, Denkanstöße, wie ein bewusster Blick aus dem Fenster, weiter nichts – Zweckmäßigkeit ohne Zweck wie Kant das Ästhetische definierte.

Betreten schaue ich vom Computer auf zu meinem „röhrenden Hirsch“. Ich glaube, ich werde mich von ihm trennen müssen. So wie er mir früher immer Ablenkung, Entspannung vom Alltag verschaffte, so sehe ich mittlerweile, durch diese Hausarbeit, in ihm nur noch die Hinweise auf die ganzen Probleme dieser Welt. Ich sehe den Wald sterben, den Hirsch wegen der verpesteten Luft vor sich hinhusten, die Autos vor ihm dahinbrausen und die Hirschkühe sich verachtend von ihm abwenden. Einsam und verlassen sehe ich ihn am Waldrand elendiglich zugrunde gehen. Seine Zeit ist gekommen, ich werde ihn abhängen und mir stattdessen eine überdimensionale blaute Fläche an die Wand bannen und auf mich wirken lassen. Mich in der endlosen Weite des Blaus (des Himmels oder des Wassers) verlieren und dabei meine Alltagsprobleme vergessen können. Schließlich muss der moderne Mensch doch mit der Zeit gehen, darf nicht zu sehr an Altvertrautem und Eingefahrenem festhalten, muss sich für Neues, Unbekanntes öffnen. Vielleicht, ja vielleicht ist auch schon bald dieses Werk unter dem Begriff „Kitsch“ wiederzufinden, wird es genauso wie der „Hirsch“ verschrien und diffamiert, von sogenannten Kunstkennern und -kritikern abgelehnt. Weil der Pöbel, das gemeine Volk dann ebenso auf den Geschmack gekommen ist und das Werk massenhaft kopiert wird. Von Dilettanten, Geldmachern und sonstigem Gesindel; aber ich, für mich und meinen Teil, werde dann die Gewissheit haben, dass mein Gemälde mein Kitsch, die wirklich wahre, triumphale, einzige Kunst ist.

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