„Meine Not wird nicht gesehen“

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Podium mit Reutlinger Bundestagsabgeordneten in der Vesperkirche trifft am Donnerstagabend, 2. Februar 2023, auf reges Interesse

„Der britische Energiekonzern Shell hat 2022 seine Gewinne verdoppelt“ und das vor allem aufgrund der extrem gestiegenen Gas- und Ölpreise, betonte die Linken-Bundestagsabgeordnete Jessica Tatti am Donnerstagabend in der Reutlinger Vesperkirche bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Nicht mit Gießkanne. Soziale Gerechtigkeit heute“. Ihre Kollegin von der Regierungsbank Beate Müller-Gemmeke (Grüne) war ebenso gekommen wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Donth – die Diskussion traf auf reges Interesse.

„Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander“, hatte Moderator Dr. Joachim Rückle als Geschäftsführer des Diakonieverbands eingangs ausgeführt. „Das reichste Prozent der deutschen Bevölkerung hat in den Jahren 2020 und 2021 rund 81 Prozent des Vermögens abgeschöpft“, zitierte Rückle Zahlen der Hilfsorganisation Oxfam. Gleichzeitig würden jedes Jahr rund 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt, „der Staat kriegt davon gerade mal zwei Prozent, nämlich 8 Milliarden“, so Rückle. „Auf der anderen Seite nimmt die Armut massiv zu.“

Ärmere Menschen seien angesichts von drastisch gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreisen am Ende, sie hätten keine Möglichkeiten mehr, überhaupt irgendwo was einzusparen. „40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben keinerlei Vermögen, nichts Erspartes“, so Rückle weiter. Grund genug, dass endlich mehr passieren muss, um den rund 1,8 Millionen Deutschen, die unter der Armutsschwelle leben, mehr zu helfen? Mit Sicherheit, waren sich die Besucher in der Vesperkirche einig.

Bezahlbarer Wohnraum sei ein riesiges Problem, sagte eine Frau aus dem Publikum. „Ich habe zwei Jobs, um meine Wohnung überhaupt bezahlen zu können.“ Sie vermisse die Solidarität in der Gesellschaft. „Manche können sich die Fahrkarte zur Vesperkirche nicht leisten, das ist einfach nur traurig“, sagte ein Besucher. Ein anderer bemängelte den Bürokratismus, „zwischen den Menschen stehen immer irgendwelche Formulare – meine Not wird doch gar nicht gesehen“.

Wieso die Reichen nicht mehr herangezogen würden, fragte sich ein anderer Mann. „Bei mir sind die Mittel verdammt knapp geworden.“ Das unterstrich auch ein weiterer Gast am Donnerstagabend: „Wo bleibt denn die Vermögenssteuer?“ Beate Müller-Gemmeke sah sich als einzige Vertreterin aus der Bundesregierung in die Ecke gedrängt – der FDP-Bundestagsabgeordnete Pascal Kober war nicht gekommen. Der Kommentar von Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler dazu: „Wer gewöhnt ist, im Mövenpick zu dinieren, kommt nicht in die Vesperkirche.“ Die Grünen-Politikerin hob hervor, dass die Ampel-Regierung schon viel auf den Weg gebracht habe, um die Not der Ärmeren zu lindern. „Wir tun viel, sind dran, aber es reicht bei weitem noch nicht aus“, gestand sie ein. Jessica Tatti sagte: „Schon vor Corona und dem Krieg wurde Politik für Reiche gemacht, jetzt werden die Schlangen bei den Tafeln immer länger.“ Die Politik in einem reichen Land müsse endlich dagegen angehen, „dass die Armut nicht immer größer wird“.

Michael Donth sagte zum Thema Wohnraum: Da sei die Politik schon lange dran, sie habe aber auch selbst dazu beigetragen, dass „Bauen immer teurer wurde“. Eine Lösung für das Problem des fehlenden Wohnraums habe er nicht. Und sein Rezept gegen Arbeitslosigkeit? „Der beste Schutz vor Armut ist gut bezahlte Arbeit.“ Tatti hielt dagegen: Schon vor Krieg und Corona habe es millionenfache Altersarmut gegeben. Als Grünen-Politikerin forderte Beate Müller-Gemmeke „Umverteilung und Vermögensabgabe“ – wohl wissend, dass es in der Regierungskoalition Widerstand dagegen geben werde. Aber: Es müsse deutlich mehr gegen die Armut getan werden, „nur – das dauert“.

Für den sozialen Wohnungsbau werde nun zumindest in Reutlingen was getan, betonte Joachim Rückle: „Der Gemeinderat hat jetzt beschlossen, dass künftig 70 Prozent der Neubauten Sozialwohnungen sein müssen – da wurde tatsächlich was bewirkt.“ Aber nicht genug, befand Jessica Tatti: Den Kommunen müsse vom Bund mehr Geld für den Bau von bezahlbarem Wohnraum zur Verfügung gestellt werden.“ Wo das Geld herkommen soll? „In einem reichen Land wie Deutschland, das so viele Hilfspakete mit mehreren hundert Milliarden Euro geschnürt hat, soll kein Geld für bezahlbaren Wohnraum da sein“, fragte die Linken-Politikerin. Donth betonte hingegen, dass eine Mietpreisbremse Gift für private Bauinvestoren sei.

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