Die Not wird weiter zunehmen

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Alle Jahre wieder AWO-Weihnachtsfeier am 24. Dezember. Zum dritten Mal wurde der Heilige Abend wegen Corona aber nicht im Café Nepomuk gefeiert, sondern nun schon zum zweiten Mal hintereinander im Hof der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt in der Rommelsbacher Straße 1.

Gegrillte Rote, Currywurst und Waffeln gab’s und eine prall gefüllte Tüte mit lauter guten Sachen, wie Rita Wilde als AWO-Mitarbeiterin und Weihnachtsfest-Organisatorin am vergangenen Samstag erläuterte. Jede Menge Besucherinnen und Besucher waren gekommen – ebenso wichtig wie Geschenke und Essen war aber auch die Gemeinschaft. Das Gefühl, gesehen zu werden. Dazuzugehören.

„Nach Corona haben wir jetzt den Ukrainekrieg, Inflation und die Energiekrise“, sagte Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck an diesem Samstagmittag als Gast bei der besonderen Weihnachtsfeier. „Wut und Verzweiflung nehmen zu“, so der Rathauschef der Achalmstadt. Es sei so unglaublich wichtig, „dass die AWO die Aufgabe übernimmt, sich um die Wohnungslosen zu kümmern“, betonte Keck. Die Reutlinger Arbeiterwohlfahrt sorge dafür, dass „die Menschen am Rand der Gesellschaft in die Mitte geholt werden“. Die Stadt sei froh, „die AWO als Partnerin zu haben“, sagte der Oberbürgermeister. „Sie sind ein Teil unserer Gemeinschaft“, sprach Keck die Gäste der „Weihnachtsgrillparty“ persönlich an.

Rita Wilde und AWO-Geschäftsführer Ulrich Högel wiesen darauf hin, dass die Zahl der wohnungslosen Menschen auch dieses Jahr 2022 „wieder erschreckend hoch ist“. Bis zum 23. Dezember wurden 847 Personen in Wohnungsnot in den Fachberatungsstellen der AWO beraten, darunter 211 Frauen. „Die sehr hohe Zahl der jungen Frauen in Wohnungsnot ist sehr bedenklich“, sagte die Sozialpädagogin Wilde. Die Einrichtungen der AWO seien rappelvoll. „Und wenn wir mit unserem Präventionsangebot der NAWO nicht entgegenwirken würden, wäre die Zahl der Wohnungslosen noch viel höher“, so Rita Wilde.

Bislang hätten noch alle Menschen in Wohnungsnot in Reutlingen Schlafplätze gefunden – in der Notübernachtung gibt es zwölf Betten, im Erfrierungsschutz fünf, die Stadt stelle weitere Plätze zur Verfügung. „Viele kommen aber bei Bekannten unter, sie machen Couchsurfing“, sagte die Sozialarbeiterin. Lustig sei das alles nicht, weder auf die Gastfreundschaft von Bekannten angewiesen zu sein, noch das Übernachten in Notübernachtung oder Erfrierungsschutz. Wo es streng riecht, wo Menschen schnarchen, laut sind. „Wir hatten viele Jahre einen Mann, der sich strikt weigerte in diesen Räumlichkeiten zu übernachten.

„Gut, dass es jetzt wieder so warm ist“, gab Rita Wilde zu bedenken. Bei den Temperaturen unter null Grad, wie noch vor wenigen Tagen, wäre es mitunter lebensgefährlich im Freien, auf der Straße, auf Parkbänken oder in Unterführungen zu übernachten. Bemitleidenswert wirkten die Menschen am Samstag bei der Open-Air-Weihnachtsfeier im AWO-Hof. Freiwillig ausgesucht habe sich niemand diese Situation, betonte Wilde. Schicksalsschläge waren bei fast allen Personen die Ursache für die drohende Wohnungslosigkeit. Arbeitsverlust, Scheidung, Krankheit, Tod der Partnerin, des Partners, Schulden.

„Weihnachten ist das Fest der Liebe, also auch der Nächstenliebe“, betonte Thomas Keck. Umso wichtiger also, dass die von der AWO betreuten Menschen gerade an Heiligabend nicht vergessen werden. Dass sie zumindest zwei Stunden lang am Samstagmittag in Gemeinschaft verbringen konnten. Dazu gutes Essen, Getränke und eine prall gefüllte Geschenketüte erhielten. Aber: Mit all den Krisen im Rücken werde wohl im kommenden Jahr die Not weiter zunehmen – „zwar ist geplant, ab 1. Januar den Hartz-IV-Satz von 449 auf 502 Euro anzuheben“, sagte Rita Wilde. Ausgleichen könne die Erhöhung um 53 Euro aber wohl weder die Stromnachzahlung im Frühjahr noch die drastisch gestiegenen Lebensmittelpreise in den Läden. „Es steht zu befürchten, dass auch in Reutlingen noch mehr Menschen von Wohnungslosigkeit bedroht sein werden“, sagte die Sozialarbeiterin.

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