Kein Geld für Karussell und eine Waffel

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„Was macht Armut mit Kindern“ stand als Frage über einer Veranstaltung mit Fachleuten am Mittwoch in der Reutlinger Citykirche

Fast auf der Hälfte der Sterne bei der Aktion „Sternenfunkeln in Kinderaugen“ in der Reutlinger Citykirche stand als Wunsch eine Jacke, eine Hose, Winterschuhe. Kleidung. Manfred König, der am Donnerstagabend als Interessierter bei der Veranstaltung in der Reutlinger Citykirche dabei war, war empört: „Kinder wollen doch Spielzeug haben und nicht Kleidung.“ Wenn aber das Geld in der Familie nicht für Klamotten ausreicht, nicht mal dafür, um auch mal über den Weihnachtsmarkt schlendern zu können? Wenn 2 Euro 50 für das Karussell und der gleiche Betrag für eine Waffel irgendwo anders eingespart werden müssen? Bettina Noack vom Mütter- und Nachbarschaftszentrum hatte vor wenigen Tagen alleinerziehende Mütter befragt, „was Armut mit Kindern macht“. Genau so lautete auch das Motto der Veranstaltung in der Citykirche am Donnerstagabend, zu der Pfarrerin Cornelia Eberle eingeladen hatte.

„Und was hast du dir auf dem Weihnachtsmarkt gegönnt“, hatte Noack die Mutter gefragt. Die Antwort: „Nichts. Ich werde jetzt mit meinem Kind drei Wochen lang einen großen Bogen um den Markt machen müssen.“ Das sei anstrengend. Und frustrierend. Beschämend. „Weil doch alle Eltern das Beste für ihre Kinder wollen“, so Noack. Hinzu komme bei armen Familien die Angst, mit dem wenigen Geld nicht zurecht zu kommen. „Lebensmittel, Obst sind so teuer“, hatte eine andere Mutter berichtet. „Und es darf nichts passieren.“ Keine Kleidung kaputt gehen. Oder noch viel schlimmer – der Küchenherd, Kühlschrank. Oder wenn eine Energie-Nachzahlung in Bälde ansteht.

Und dann auch noch Weihnachten. Geschenke für die Kinder? Wenn das Geld nicht einmal für die ganz alltäglichen Kosten reicht? Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern hat Bettina Noack genau davon berichtet. Dass sie maximal im Second-Hand-Laden Kleidung für sich und ihre Kinder kaufen kann. Eine Jacke in einem ganz normalen Laden für einen Sohn kaufen? Geht nicht. „Und das macht was mit den Menschen, auch mit den Kindern, wenn sie im Vergleich mit den anderen Schülern immer nur gebrauchte Kleidung tragen“, so Bettina Noack.

Noch schlimmer sei die Situation für Jugendliche. Wenn sie bewusst realisieren, dass die Familie arm ist, sich keinen Urlaub leisten kann, im Wettstreit mit Gleichalterigen immer den Kürzeren ziehen, kein teures Rad drin ist, das Schullandheim und Schulausflüge flachfallen. Weil das Geld dafür in der Familienkasse nicht reicht. An diesem Punkt hakte Reutlingens Sozialamtsleiter Joachim Haas ein: „Das darf nicht sein, es gibt ein Recht auf die Teilnahme am Schullandheim – die Unterstützung kann man beantragen.“ Und das müsste in den Schulen bekannt sein, Lehrer könnten und sollten Kinder und Eltern darauf hinweisen, waren sich die Besucher der Veranstaltung einig.

Aber: „Wir können als Stadt die Not nur lindern, wir werden nie Bildungsgerechtigkeit haben“, sagte Haas. Stephanie Gohl vom Diakonieverband brachte am Mittwochabend einige „Blitzlichter“ von Armut in die Runde ein: „Karges Essen vom Discounter, kaputte Hosen, das Leben von Grundsicherung und oft die klassische Not, dass Menschen nicht wissen, wie sie eine Brille finanzieren sollen“, berichtete die Sozialberaterin und stellvertretende Geschäftsführerin des Diakonieverbands.

Und sie ging auch auf den „Regelsatz“ ein, der in Hartz-IV enthalten ist: Einzelpersonen stehen 449 Euro zu, einem Kind zwischen 6 und 13 Jahren 311 Euro. In diesen Beträgen sollen enthalten sein: für Lebensmittel 3 Euro 50 am Tag, für Bildung 1 Euro pro Tag, für Bildung 1 Euro 50 am Tag. Ein Skandal, waren sich die Anwesenden in der Citykirche einig. „Rücklagen davon zu bilden ist unmöglich“, betonte Gohl. Und wenn Menschen arbeiten und knapp über dem Hartz-IV-Satz sind, dann werde es noch schwieriger – weil die Menschen ja dann noch Miete und Energiekosten selbst tragen müssen. „Und den Kindern wird die Teilhabe am normalen Leben verwehrt – deshalb braucht es dringend die Kindergrundsicherung“, forderte Bettina Noack. „Kinder sind nicht schuld, wenn die Eltern arm sind.“

INFO:

Zerrbilder über arme Menschen

„Es gibt viele verzerrte Bilder über Armut in der Gesellschaft“, sagte Pfarrerin Cornelia Eberle am Donnerstag in der Citykirche. „Zum Beispiel, dass Hartz-IV-Empfänger nicht arbeiten wollen und einfach nur faul sind.“ Und was sagte Bettina Noack dazu, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Armut beschäftigt und genau weiß, wie es armen Menschen geht. Sie kennt Armut auch aus eigener Erfahrung sowie über ihr enormes Engagement im Reutlinger Mütterzentrum. „Der Prozentsatz derer, die tatsächlich nicht arbeiten wollen, ist sehr gering.“ Von Armut betroffen seien vor allem Alleinerziehende, die aufgrund ihrer Kinder nur eingeschränkt oder gar nicht arbeiten können. Arm seien zudem oft kranke Menschen. „Faul sind die allerwenigsten“, so Noack.

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