Gedenkgottesdienst am Sonntag, 16. Oktober 2022, für die Opfer der NS-Euthanasie im Jahr 1940 anlässlich der Beschlagnahmung des Samariterstifts in Grafeneck vor 82 Jahren
„Wir sind sehr betroffen über so viel Unmenschlichkeit“, hatten im Jahr 2006 Schüler aus Sachsen in das Gästebuch der Gedenkstätte Grafeneck eingetragen. Ebenfalls Schüler, aus Trochtelfingen, hatten am 15. März 2022 eingetragen: „Wir sind dankbar, dass wir in der heutigen Zeit leben dürfen.“ Ein junger einzelner Schüler hatte am 9. Mai 2022 geschrieben: „Das ist ja echt grausam, was damals die Nationalsozialisten abgezogen haben, das macht mir ein mulmiges Gefühl.“ All diese Einträge im Gästebuch haben am gestrigen Sonntagnachmittag Praktikanten der Gedenkstätte Grafeneck beim Gottesdienst in Grafeneck vorgetragen.
Mehr als 50 Menschen waren gekommen, um der Opfer der NS-Euthanasie im Jahr 1940, an ebendiesem Ort zu gedenken. „Über 10 000 Menschen sind hier ermordet worden, weil sie als lebensunwert betrachtet wurden“, betonte Prälat Markus Schoch in seiner Predigt an diesem Ort, der so wunderschön, gleichzeitig aber auch ein Ort des größten Verbrechens ist, zu denen Menschen fähig sind, wie Pfarrer Frank Wößner als Vorstandsvorsitzender der Samariterstiftung betonte. „Grafeneck ist ein Ort der Ambivalenz“, so seine Schlussfolgerung. Solches Unrecht wie im Jahr 1940 sei nicht nur heute, sondern auch damals „leicht zu erkennen“ gewesen, sagte Schoch. Denn in jedes Menschen Herz sei angelegt, „was richtig und falsch, was Recht und Unrecht ist“. Natürlich könne es Fragen geben, auf die keine leichten Antworten zu finden sind, so Schoch. Etwa ob man selbst Gewalt anwenden darf oder sogar muss, „um Überfallene zu schützen“, wie etwa beim Ukraine-Krieg.
Aber: „Es gibt einen inneren Kompass, der einem sagt, was Recht und Unrecht ist“, betonte der Prälat. „Man kann versuchen, die Stimme des Herzens zu überhören, sie zu ignorieren, man kann sie vielleicht mit Ideologie übertünchen – aber jeder wird verstehen, dass man Menschen nicht umbringen darf.“ Geschwiegen hatten 1940 aber nicht nur die allermeisten Beschäftigten in den Einrichtungen, aus denen die Bewohner nach Grafeneck gebracht wurden – auch die Kirchenleitung wagte keinen Protest, sagte Schoch. Aber – leise Kritik wurde dennoch geäußert: „Wenn die Jugend sieht, dass dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist, welche Folgerungen wird sie daraus für das Privatleben ziehen – auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“, zitierte der Prälat aus einem Brief von Landesbischof Theophil Wurm an Reichsminister Kerrl im Juli 1940.
Markus Mörike sprach am gestrigen Sonntag als Leiter des Samariterstifts Grafeneck den Krieg in der Ukraine an: „Auch heute werden wieder bestialische Grausamkeiten auf europäischem Boden begangen – Soldaten werden wieder verheizt, die Angst vor einem Atomkrieg wächst.“
Münsingens Bürgermeister Mike Münzing verwies als Vereinsvorsitzender der Gedenkstätte Grafeneck in seinem Schlusswort darauf, dass dieser besondere Ort nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die aktuelle Situation – und auch die Zukunft im Blick haben müsse. Dem Verein stehen laut Münzing bekanntlich große Aufgaben bevor: Neben der historischen und pädagogischen Arbeit soll auch bald die der Übernahme des Schlosses in Grafeneck geregelt werden. „Lassen Sie uns bei dieser Aufgabe nicht allein“, bat der Vereinsvorsitzende die Anwesenden in Grafeneck an diesem sommerlich warmen Herbsttag.