Die Angst vor der atomaren Drohung – 41. Woche

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Eins vorneweg: Ich bin kein politischer Kommentator. Ich bin Freier Lokaljournalist in Reutlingen und Umgebung, der zurzeit aber in Gemeinderatssitzungen immer öfter mitkriegt, dass aufgrund des Gasmangels und der drastisch gestiegenen Energiepreise Sparmaßnahmen getroffen werden:

Straßenbeleuchtungen werden abends früher und morgens später aus- und eingeschaltet. In Sporthallen (sofern sie nicht für Flüchtlinge gebraucht werden) gibt es nur noch kaltes Duschwasser, sie werden ebenso wie öffentliche Gebäude nicht mehr oder nur noch eingeschränkt beheizt. Zudem wissen die Landkreise mittlerweile genauso wenig wie die Kommunen, wo und wie sie die zugewiesenen Flüchtlinge (egal, ob aus der Ukraine oder aus anderen Teilen der Welt) unterbringen sollen. Die Verantwortlichen wissen um die Notwendigkeiten, kommen aber an ihre Grenzen. Sollen die Geflüchteten im Wald schlafen? So wie mir ein Nachbar vor kurzem erzählt hat. Als Pforzheim am 23. Februar 1945 im Zweiten Weltkrieg mit Phosphorbomben überzogen wurde, floh die Zivilbevölkerung in die Wälder. Der Nachbar war als kleiner Junge dabei, er verbrachte vier Wochen im Wald mit seinen Eltern. Ein Ereignis, das ihn offensichtlich unheimlich beeindruckt und beeinflusst hat.

Wir alle hatten gehofft, dass es solche Zeiten nie mehr geben würde. Doch jetzt tobt der Krieg in der Ukraine schon seit fast sieben Monaten. Unfassbare Bilder von zerstörten Wohnhäusern und ermordeten Menschen erreichen seit 24. Februar unsere Wohnzimmer. War der Krieg ganz plötzlich sehr nahe gerückt, so gewöhnten wir uns in den zurückliegenden Monaten doch an die Gräueltaten, denn:  Die Meldungen aus den umkämpften Kriegsgebieten vor allem im Osten der Ukraine wurden weniger. Bis zu dem Zeitpunkt, als in diesen Gebieten ein Scheinreferendum unter den dort noch verbliebenen Menschen abgehalten wurde – mit vorgehaltenen Waffen von russischen Soldaten. Wie nicht anders zu erwarten war, lag die Zustimmungsquote zur Annexion der russisch besetzten Gebiete (immerhin ein Sechstel der gesamten Ukraine) bei fast 100 Prozent. Lächerlich, könnte man denken. Wenn es nicht so verdammt ernst wäre. Der Hintergrund der Annexion: Weil es sich ja nun um vermeintlich russisches Staatsgebiet handle, habe Putin das Recht, Angriffe auf diese Gebiete mit Atomwaffen zu beantworten. Passieren könnte das jetzt jede Minute – weil sich die Ukraine die Wegnahme ihrer Staatsgebiete natürlich nicht einfach so gefallen lassen wird.

Immer öfter droht Putin also mit Atomraketen. Die Medien sind voll davon. Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosendungen. Und immer öfter wird darüber diskutiert, ob Russlands Autokrat tatsächlich bereit wäre, solch einen Atomschlag zu führen – wie auch immer der aussehen könnte. Putin spielt ja eh schon die ganze Zeit mit dem Feuer und lässt immer wieder das größte Atomkraftwerk auf europäischem Boden in Saporischschja angreifen. „Wir dürfen nicht in Putins Angstfalle reingehen, die er immer wieder aufstellt“, sagte Rüdiger von Fritsch am heutigen Donnerstag, 13. Oktober, in SWR1-Leute. Er war fünf Jahre lang Botschafter in Moskau, kennt Putin und die Russen also ziemlich genau. Allerdings kennt auch Putin die europäischen und besonders die deutschen Befindlichkeiten sehr genau, schließlich war er zwischen 1975 und 1990 KGB-Mitarbeiter in Dresden. Als russischer Staatschef hat er mit Angela Merkel gespielt, er ließ sie und alle Deutschen glauben, dass Wandel durch Handel tatsächlich funktionieren könnte. So hat er Deutschland abhängig vom russischen Gas gemacht und auch jetzt spielt er wieder auf der Klaviatur der Befindlichkeiten der Deutschen: Zunächst befeuerte er die Angst, dass die russische Armee die Ukraine überrennen könnte und sich dann gleich das nächste Land vornehmen würde. Polen. Moldau, Lettland, Estland. Als die Eroberung der Ukraine auf die Schnelle nicht funktionierte, schürte Putin die Sorge, dass wir im Westen diesen Winter frieren könnten. Dass unsere Wirtschaft zusammenbrechen könnte. Viele Gas- und Strom-abhängige Branchen (so auch Bäcker und Metzger, wie ich vergangene Woch erfahren habe) fürchten um ihre Existenz, weil sie die drastisch gestiegenen Energiepreise nicht mehr zahlen könnten. Nachdem Putin von sich aus den Gashahn dann völlig zugedreht hatte (mit dem kleinen Intermezzo der Zerstörung gleich beider Nordstream-Leitungen), nun Putins Drohung mit Atomraketen. Was ganz offensichtlich ein großer Schritt weiter auf der Eskalationsleiter ist. Wie, wann und wohin er diese Raketen richten könnte, lässt er natürlich offen.

Bei uns hier im Westen wird heftig darüber spekuliert, ob Wladimir Putin diese Drohung tatsächlich wahrmachen würde. Dass er das könnte, wissen wir. Aber spielt er tatsächlich mit dem Gedanken? Es heißt, dass sich dann auch China von Russland abwenden würde, was Putin sich einfach nicht leisten könnte. Erst gestern hat eine große Mehrheit der UN-Vollversammlung die Annexion der ukrainischen Gebiete verurteilt. 143 Länder taten dies, 35 enthielten sich (darunter auch China, Indien, Pakistan). Nur fünf Länder stimmten gegen die Resolution (wenig verwunderlich: Russland, Syrien, Belarus, Nordkorea, Nicaragua). In der Resolution wird die Annexion der östlichen ukrainischen Teile durch Russland nicht nur verurteilt, sondern auch für ungültig erklärt. Aber sonst? Wird die Resolution Putin beeindrucken? Wenn überhaupt, dann mit Sicherheit nicht in dem Sinn, dass er den Krieg nun beenden würde.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Putin tatsächlich Atomwaffen einsetzen könnte, sei nicht sehr groß, sagen die ein oder anderen Fachleute. Aber, sagen andere: Ganz vom Tisch wischen könne man die Drohungen auch nicht. Je mehr Putin mit seinem Vorgehen, mit dem Krieg, mit der Generalmobilmachung, mit Widerstand in der eigenen Bevölkerung, ja selbst mit Widerstand im Kreml – je mehr er auf Widerstand stößt, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass er auf den roten Knopf drückt? Wir wissen es nicht. Und ich kann mir vorstellen, dass Putin sich an dieser unserer Unsicherheit, an den Befürchtungen und Ängsten des Westens weidet. Dass er sich diebisch freut darüber, dass er derart mit unserer Angst spielen kann.

Doch was macht der Krieg in der Ukraine mit uns? Wie beeinflussen uns die atomaren Drohungen? Was können wir persönlich tun? Ruhe bewahren? Gar nicht so einfach. Ich schaue aus dem Fenster und sehe Wolken am Himmel, die letzten Blumen im Garten sträuben sich noch gegen den Herbst und das Verwelken, wohingegen die Blätter an den Bäumen und Büschen bereits deutliche Braunfärbungen über sich ergehen lassen müssen. Also alles völlig normal? Als im Radio gerade eine „Eilmeldung“ mit einem alarmierenden Jingle kam, dachte ich: Jetzt ist es soweit. Jetzt hat Putin eine Atomrakete gezündet. Inhalt der Meldung war dann aber, dass ein Nachfolger für den rheinland-pfälzischen Innenminister gefunden wurde, der gestern zurückgetreten war. Allein der Gedanke, dass bei jeder Eilmeldung, bei allen Nachrichten bekanntgegeben werden könnte, dass der Atomkrieg begonnen hat, zeigt mir: Ich bin schon in einer Alarmstimmung, die mir nicht guttut. Bin ich allein damit? Übertreibe ich? Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass sich viele Menschen Gedanken über die Situation in der Ukraine machen. Und ich glaube, dass auch ein Großteil der deutschen Bevölkerung Putins atomare Drohungen mitkriegt. Vielleicht bleibt uns allen ja gar nichts anderes übrig als – Ruhe zu bewahren. Ängste im Keim ersticken. Verdrängen. Nicht zulassen. Denn: Was würde sich ändern, wenn ich mich ständig mit der Bedrohung beschäftige. Außer, dass ich in Panik verfallen würde. Also: Keep cool. Ich weiß eh nicht, was kommt, kann es auch nicht beeinflussen.

Sollte sich die Menschheit tatsächlich selbst zerstören? Mit dem Klimawandel ist sie ja bereits auf dem besten Weg dorthin. Ein Atomkrieg würde das Ganze nur abkürzen. Und … verrückt genug dazu wären wir ja. Denn schon in den Zeiten des Kalten Krieges war ein Gedanke stetig vorhanden, dass irgendeiner der Atomwaffen-Kleinstaaten, irgendein Verrückter, mit einer Rakete werfen könnte. Eigentlich ein Wunder, dass das bislang nicht passiert ist. Nun zeigt sich, dass das gar kein wahnsinnig gewordener Drittwelt-Diktator sein muss, sondern der Kopf einer Supermacht, ein Mensch sein kann (obwohl mir diese Bezeichnung für Putin als humanoides Wesen schwerfällt), der seit vielen Jahren und Jahrzehnten die Weltgeschichte mitgeprägt hat. Und dabei offensichtlich insgeheim immer den Traum hegte, das großrussische Reich, die Sowjetunion vor Michail Gorbatschow, wieder herzustellen. Allerdings ignoriert er dabei völlig, dass sich die Welt schon vor 1990 verändert hat. Gleichzeitig war es für uns Westdeutsche zumindest ein schwerer Schlag, erkennen zu müssen, dass Wandel durch Handel eben doch nicht funktioniert. Meist gar nicht funktionieren kann, wenn wir etwa den Blick ganz aktuell auf ein Land wie Afghanistan werfen. Dort haben wir gesehen, dass man Demokratie nicht einfach mit Coca Cola und McDonalds exportieren kann. Genau das Gleiche haben wir nun auch mit Russland erkennen müssen.

Und das führt mich auch zu einer weiteren Frage – denn im Zuge der Energiekrise und der Klimakrise müssten wir eigentlich erkennen, dass die Energie-Abhängigkeit von autokratischen Staaten nichts Gutes zutage fördert. Und: Die große Anzahl der Krisen müsste eigentlich auch zeigen, dass der Kapitalismus nicht auf Dauer funktionieren kann. Weil er einer der großen Antreiber des Klimawandels ist. Weil der Kapitalismus nicht nur die Ungerechtigkeiten zwischen den Ländern im Norden und denen im globalen Süden vorantreibt, sondern auch die Ausbeutung der Erde – und damit das Schmelzen der Gletscher, den Anstieg der Ozeane und der globalen Temperaturen, das Untergehen von zahlreichen Inseln. Schlussfolgern könnte man daraus, dass die momentanen hohen Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa nur der Anfang sein werden. Weil nämlich die Klimaflüchtlinge auch nicht mehr sehr lange auf sich warten lassen werden. Eins führt zum anderen, alles hängt mit allem zusammen. Einfache Lösungen für schwierige Zusammenhänge gibt es nicht.

Doch nun genug der Horror-Szenarien. Wie ging noch mal das Lied in dem Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“? Wie komme ich ausgerechnet jetzt darauf? Ah genau: „Always look on the bright side of life.“ Ans Kreuz genagelt fröhlich pfeifen. Schaut alle nur auf die schönen Seiten des Lebens. In diesem Sinne.

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