St. Florian, eine „morbide“ Stadt und viel Körperkontakt – 34. Woche

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Ach, wie schön. Ach, wie toll die Welt doch sein kann – trotz Chaos um uns herum.

Wenn der Sensenmann vor der eigenen Haustür noch mal weitergezogen ist, dann rücken Ukraine-Krieg, Gasversorgungskrise, Klimawandel und alles andere zumindest eine Weile etwas in den Hintergrund. Dann war da nur Erleichterung pur. Und ich konnte die paar freien Tage in der Zeitungs-Saure-Gurken-Zeit unglaublich genießen. Zum Beispiel bin ich mit dem 9-Euro-Ticket nach Herrenberg gefahren. Und habe dann in Tübingen überlegt, ob ich nicht doch nach Sigmaringen, Rottweil oder sonstwohin fahre – weil ich den Bus nach Herrenberg nicht fand. Weil der sich nämlich hinter dem Kürzel SEV versteckte. Woher sollte ich denn wissen, dass SEV „Schienenersatzverkehr“ heißen könnte und damit der Bus nach Herrenberg gemeint war? Goht’s no? Fast hätte ich da meine gute Laune schon wieder verloren. SEV hätte ja auch „Spielt einer Verstecken“ heißen. Oder „Sex erzeugt Vreude“. Weil aber beim Weg zurück in den Bahnhof genau in dem Moment kein Zug nach nirgendwo (frei nach Michael Holm) fuhr, machte ich mich nochmals auf die Suche, fand schließlich das SEV-Schild, versuchte ihm zu folgen und fand auch ganz am anderen Ende hinter den Stegen des eigentlichen Busbahnhofs die Abfahrstation nach Herrenberg. Was für ein Glück. Gelohnt hatte sich die Suche auch, denn der Kurztripp ins Strohgäu war richtig schön.

Schön war auch die Fahrt nach Vaihingen/Enz, bei der Bine und ich am Freitag keinen SEV suchen mussten. Allerdings war dieser Ausflug mit der Erfahrung verbunden, dass wir nicht nochmal nach Vaihingen/Enz fahren müssen. Denn: Das Städtchen versprüht einen etwas morbiden Charme. „Ein sterbender Ort“, wie uns am Schloss Kaltenstein ein Vaihinger Einwohner gesagt hatte. Was es Besonderes gibt in Vaihingen? „20 Friseure, drei Restaurants und sonst ein paar Döner.“ Alte Häuser seien an die falschen Leute verkauft worden, die nichts draus machen. Ja. So ähnlich haben wir Vaihingen dann auch selbst erlebt. Viele nette Fachwerkhäuser, doch dazwischen immer wieder marode Gemäuer. Im Zusammenspiel ergibt das kein besonders schönes Gesamtbild. Interessant war dann die Rückfahrt: Der Zug von Bietigheim nach Reutlingen war derart überfüllt, dass Bine zwischendrin fast drei Kinder auf dem Schoß hatte. War eine nette Erfahrung. Und hat die Menschen doch sehr zusammengebracht. „Mehr Körperkontakt“, hatte ein junger Mann die Menschen im Gang aufgefordert, noch mehr zusammenzurücken, weil doch schließlich noch mehr Passagiere einsteigen wollten. Das war tatsächlich eine „hautnahe“ Erfahrung.

Und was machte die „große“ Politik in dieser Woche? Naja. Die Hilfe für die Gasbeschaffer – also die Gasumlage von 2,149 Cent pro Kilowattstunde – werde nun auch von Unternehmen beantragt, die in den vergangenen Monaten dick und fett Kohle gemacht haben. Wirtschaftsminister Robert Habeck will diese von ihm erdachte Umlage ändern. Bleibt zu hoffen, dass das gelingt. Bine hat sich tierisch über die versuchte Abzocke von diesen Unternehmen aufgeregt. Sie sprach von Moral, dass man diese Firmen doch öffentlich an den Pranger stellen müsste. Ja. Recht hat sie. Nur: Würde das irgendwie helfen? Würden sich dadurch Unternehmen ändern? Dann müsste Daimler, der nur noch auf die dicken, fetten, großen Autos in der Herstellungspalette setzt, doch auch an den Pranger. Und all die anderen Autofirmen genauso. Oder etwa nicht? Aber: Dann müssten sich ja auch alle Aktionäre fragen lassen, ob sie nicht das falsche Unternehmen unterstützen. Siehe Audi. Die wollen jetzt in die Formel 1 einsteigen. Und mehrere 100 Millionen Euro dort investieren. „Super“, sage ich. Das hilft bestimmt massiv gegen den Klimawandel. Gibt es was Verrückteres, als gerade jetzt in der Formel 1 einzusteigen? Gibt es etwas Rücksichtsloseres gegen die Umwelt, gegen das Klima, gegen den Menschen? Ja, klar. Gibt es bestimmt. Ein Krieg zum Beispiel.

Oh, wie verrückt sind die Menschen eigentlich. Völlig gaga, am Ast zu sägen, auf dem wir alle sitzen (apropos: Dazu gibt es einen Zeitungsartikel, ein Gespräch mit dem Pfullinger Soziologen und Philosophen Jürgen Strohmaier, im GEA diese Woche – aber auch auf dieser Homepage). Und wir alle sägen mit. Durch unseren Konsum. Durch die Unmengen an Plastik, die wir jeden Tag produzieren. Da muss man noch nicht mal auf die ganzen Plastikgetränkeflaschen hinweisen, die gekauft werden. Wenn man nur auf die Mengen an Kunststoffen schaut, die tagtäglich zwischen den Firmen hin- und hergeschickt werden. Täglich hunderttausende riesige Paletten, die mit x Lagen Folien umwickelt werden, damit sie nicht umfallen. Überall Plastikverpackungen, die … ach hör doch auf. Das ist der pure Wahnsinn.

Und dann müssen jetzt in den Landkreisen wohl wieder Sporthallen freigemacht werden, um die weiter steigende Zahl der ukrainischen Flüchtlinge unterzubringen. Und der Landessportverband sagt: Ja, natürlich müssen die Menschen irgendwo untergebracht werden. Aber in Turnhallen? Wo Sport doch so unglaublich wichtig ist. Wo man auf Sport doch auf keinen Fall verzichten kann? Ich würde sie am liebsten anbrüllen: „Und die Ukrainer sollen auf dem Rasen schlafen? Oder im Wald? Oder was? Guckt mal nach Holland, nach Ter Apel, was da gerade passiert. Wollt Ihr das Gleiche auch hier bei uns?“ Mal wieder lässt beim Thema Flüchtlinge St. Florian herzlich grüßen. Genauso wie in Wannweil übrigens. Mal wieder. Dort hat der Gemeinderat gegen einen Rettungshubschrauberlandeplatz neben der B 28 gestimmt. Am Mittwoch war ich bei einer GEA-Umfrage vor dem Rathaus dabei: „Wir sind Radfahrer, wir können uns nirgendwo mehr zu erkennen geben, bloß nicht erwähnen, dass wir aus Wannweil sind – da machen wir uns zum Gespött“, hatten zwei Wannweiler zu mir gesagt. Ein anderer unterbreitete einen – leider nicht ganz ernst gemeinten – Vorschlag: „Wenn kein Hubschrauberplatz da hinkommt, dann könnte man doch Windräder dort aufstellen.“ Ja, warum nicht? Nachdem sich doch in Leserbriefen immer noch Menschen darüber aufregen, dass die Firma Sowitec auf dem Hohfleck, hinter dem Schloss Lichtenstein nun endlich Windräder bauen dürfen. Und die Damen und Herren ihren Strom ja aus der Steckdose beziehen. Aaaaaah.

Ach ja. Die Welt ist so verrückt. Und heute Abend, nach einem verregneten Tag, muss ich für die Reutlinger Nachrichten auch noch aufs Reutlinger Weinfest. Da bin ich aber gespannt, was ich da erlebe …

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