Der Pfullinger Soziologe Jürgen Strohmaier beschäftigt sich in der Neske-Bibliothek mit (nicht-) alltäglichen Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum in der großen Politik – und vor Ort
Gut findet Jürgen Strohmaier die Bürgerbeteiligung in Pfullingen. Aber: Manche Bürger wollen sich an der Entwicklung der Stadt, an einem Mobilitätskonzept, dem Bau von Kinderhäusern oder Sozialwohnungen gar nicht beteiligen, sagt der 63jährige Pfullinger, der Sozialpädagogik, Soziologie, Pädagogik und Philosophie studiert hat. Auch wenn das Angebot zur Bürgerbeteiligung gut und sinnvoll sei – dazu gezwungen werde könne natürlich niemand, sagt Strohmaier im Gespräch in der Pfullinger Neske-Bibliothek, einem hoch-philosophischen Ort, direkt neben der Klosterkirche, wo momentan uralte Mauern ausgegraben werden.
Über Ernst Bloch ist Strohmaier einst zur Philosophie gekommen – „das war 1980, da machte ich gerade Zivildienst“, erinnert sich der Soziologe, der heute als stellvertretender Leiter des Landesjugendamts beim Kommunalverband für Jugend und Soziales seine Brötchen verdient. Mit philosophischen Fragestellungen beschäftigt er sich immer wieder – auch mit Blick auf die geplante Regionalstadtbahn. Und schon erläutert Strohmaier den Unterschied zwischen einer „konkreten“ und einer „abstrakten“ Utopie: „Die Bahnstrecke durch Pfullingen ist eine ‚konkrete Utopie‘, weil ja bereits erste Schritte zur Umsetzung in die Wege geleitet wurden“, sagt der Soziologe. Eine „abstrakte Utopie“ sei hingegen die Vorstellung, dass die Stadtbahn Pfullingen direkt an den Münchener Hauptbahnhof anschließen würde.
Für eine Utopie brauche es die Hoffnung, „die ist immer da – die einen hoffen, dass die Regionalstadtbahn kommt, die anderen, dass sie nicht kommt“, sagt Strohmaier. Auch an diesem Beispiel sei eine Entwicklung zur „Polarisierung“ erkennbar: In den vergangenen Jahrzehnten hätten sich besonders durch die neuen „sozialen“ Medien die Formen der Kommunikation verändert. Viele Menschen würden nur noch „aus ihren Blasen heraus“ oftmals anonym kommunizieren – mit vorgefertigten Meinungen, von denen sie nicht mehr abrücken wollen. Gesellschaften spalten sich dabei – wie in den USA. Oder auch im Kleinen, in Kommunen, in denen die eine Hälfte eines Ortes für den Bau von Sozialwohnungen ist, die andere Hälfte dagegen. „Es wäre die Aufgabe der Politik, die gegnerischen Lager zu versöhnen“, sagt Jürgen Strohmaier. Sonst drohe „das Ende der Demokratie“.
Dass unterschiedliche Lager nicht bereit seien, Argumente auszutauschen – wie etwa bei Impfgegnern und Impfbefürwortern – „das basiert meist auf falschen Annahmen“, so Strohmaier. „Heute gibt es bei einem Streitpunkt oft nur noch schwarz oder weiß, entweder man ist vehement dafür oder dagegen.“ Dabei gebe es auch beim Impfen viele Grautöne dazwischen, Argumente, warum man Impfen für sinnvoller hält oder warum man Angst davor hat. Viele Probleme seien heute extrem komplex, sagt der philosophierende Soziologe. Gerade in Bezug auf Bürgerbeteiligung sei das nicht einfach, weil nun mal viele Menschen viele unterschiedliche Meinungen haben. „Bürgerbeteiligung ist kein Allheilmittel“ – dennoch führe in einer Demokratie kein Weg an der Beteiligung der Bürger vorbei.
Noch schwieriger als im Kommunalen oder auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen sei das bei den globalen Themen, die momentan die Menschen beschäftigen: Krieg in der Ukraine, Corona, Klimawandel, zunehmende Naturkatastrophen, Umweltverschmutzung, Artensterben. „Wir leben in einem Zustand des Unbehagens in der Gegenwart“, zitiert Strohmaier Siegmund Freud, der den Begriff des „Unbehagens in den Kulturen“ prägte. „Viele Menschen sind heute massiv verunsichert.“ Und das vielleicht auch wegen der Frage, welches Land Russland als nächstes überfallen könnte. Zehn Packungen Toilettenpapier oder sechs Flaschen Sonnenblumenöl zu kaufen, mache jedoch keinen Sinn.
„Wie soll man in solch einer Situation der Verunsicherung noch Utopien entwickeln“, fragt sich Strohmaier. Doch Utopien seien notwendig, auch wenn Wladimir Putin das Selbstverständnis der westlichen Welt – des Glaubens an eine Demokratisierung durch Handelsbeziehungen – auf den Kopf gestellt hat. Und jetzt? „Heute kann kein Krieg mehr gewonnen werden, da gibt es nur Verlierer“, zeigt sich Strohmaier überzeugt. Die EU müsse alles tun, um den Ukraine-Krieg zu stoppen. „Putin müsste ein Ausweg geboten werden, damit er sein Gesicht wahren könnte.“ Immer noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, mache keinen Sinn, „das führt nur zu noch viel mehr Toten“. Also was tun? „Wir brauchen Ideen außerhalb des Militärischen“, fordert der Pfullinger Soziologe. „Die Hilfsbereitschaft hier für die Ukraine-Flüchtlinge ist gut, aber mir fehlt das Nachdenken über Alternativen zu einem Ende des Krieges.“ Ex-Kanzler Gerhard Schröder als Freund von Putin mit einem Gespräch über einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu beauftragen, erscheine wohl als zynisch bis sarkastisch. Vielleicht aber den türkischen Staatspräsidenten? Immerhin redet er ja mit Putin. Und Putin mit ihm. Warum auch immer. Aber: Ideen seien gefragt.