Von Existenzangst geplagt

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Vorstellung des 4. Lebenslagenberichts über „Menschen in Wohnungsnot“ listet Ursachen, Auswirkungen und Lösungsansätze im Reutlinger Spitalhof auf

Scham. Schuldgefühle, aber auch Wut – all das empfindet eine junge alleinerziehende Mutter, die in Reutlingen mit ihrem Säugling obdachlos geworden ist. Solche und ähnlich erschütternde Aussagen haben Studierende des Studiengangs Soziale Arbeit am Reutlinger Campus bei ihren Interviews erhalten. Ihre Aufgabe bestand darin, Porträts von Betroffenen zu erstellen, die in Wohnungsnot geraten sind. Die Porträts sind in den 4. Reutlinger Lebenslagenbericht eingeflossen, der am gestrigen Freitag im Reutlinger Spitalhof vorgestellt wurde. „Wenn Menschen keine Wohnung, kein Dach mehr über dem Kopf haben, dann wird alles andere nachrangig“, erläuterten die Studierenden Tabea Greger und Jasmin Rentschler zusammen mit Prof. Jo Jerg. Pure Existenzangst greife dann oftmals um sich.

Der mittlerweile 4. Lebenslagenbericht „steht in einer langen und guten Tradition“, sagte Landkreis-Sozialdezernent Andreas Bauer am gestrigen Freitag. Seit 2009 sind Lebenslagenberichte über Alleinerziehende, über kinderreiche Familien und der erste über Langzeitarbeitslose erschienen. Beteiligt an allen Berichten waren der Landkreis, die Stadt Reutlingen, alle Vertreter der Liga der Freien Wohlfahrtspflege sowie das Reutlinger Jobcenter. Was sie am meisten beeindruckt hat, an dem nun vorliegenden Bericht? „Ich war überrascht über die Vielzahl der Ursachen von Wohnungslosigkeit – dass nicht nur fehlender Wohnraum eine enorme Rolle spielt, sondern auch manches Mal die falsche Hautfarbe, der falsche Name“, sagte Joachim Haas als Sozialamtsleiter der Stadt. Erschüttert zeigte er sich davon, „dass Betroffene von Politik nichts mehr erwarten, das ist eine Katastrophe“.

Ebenfalls erstaunt zeigte sich Markus Dick als Leiter des Reutlinger Jobcenters, dass viele Familien über Jahre hinweg von Wohnungsnot bedroht sind „und trotzdem fallen diese Menschen nicht auf“. Lisa Kappes-Sassano betonte als Geschäftsführerin von Caritas: „Es gibt bei uns ja kaum mehr ein Beratungsfeld, in dem Wohnungsnot nicht Thema ist.“ AWO-Chef Uli Högel sagte: „Mich erstaunt die Demut bei den von Wohnungsnot Betroffenen – der Teufelskreis muss durchbrochen werden, damit die Menschen wenigstens ein Dach über dem Kopf haben.“ Doch reicht das aus, wenn in manchen Wohnungen nicht mal ein Herd- oder Waschmaschinenanschluss vorhanden ist, wie die Studierenden mehrfach von Wohnungssuchenden erfahren haben, wie Moderator Dr. Jürgen Strohmaier fragte.

Die Studierenden haben nach den Ursachen für Wohnungsnot geforscht – und die seien sehr vielfältig: Geldmangel, steigende Grundstückspreise, die Herkunft, Wohnungs- und Arbeitskündigung, steigende Wohnkosten, fehlender sozialer Wohnungsbau, Scheidung, Trennung, Krankheit können alles Ursachen für den Verlust der Wohnung sein. Aber: Der oftmals verzweifelten Suche nach Wohnraum stehe ein hoher Leerstand in Häusern gegenüber. Das sei nun bei der Ankunft der vielen ukrainischen Flüchtlinge deutlich geworden, wie Andreas Bauer verdeutlichte: „80 Prozent von rund 2200 Ukrainern, die innerhalb kurzer Zeit im Landkreis angekommen sind, fanden eine private Unterkunft.“ Der Leerstand von Wohnungen müsse also angegangen werden, so seine Forderung.

Joachim Haas zog ein positives Fazit aus diesem plötzlich auftauchenden Wohnraum: „Die Bürgerschaft hat sich extrem solidarisch gezeigt, nun bleibt die Frage, ob wir nicht mehr auf die Vermieter zugehen müssen.“ Die Studierenden um Prof. Jo Jerg hatten aber noch andere Lösungsansätze mitgebracht: „Der soziale Wohnungsbau muss verstärkt werden, auskömmliche Löhne müssen bezahlt werden und neue Wohnraumkonzepte müssen her.“ Susanne Stutzmann vom Reutlinger Familienforum lenkte den Blick nach Tübingen: Wieso können nicht auch in Reutlingen neue Wohnformen geschaffen werden wie etwa mit dem Mietshäusersyndikat, fragte sie. Michael Wandrey verwies als Vorsitzender des neu gegründeten „Wohnwerks“ auf ein weiteres Problem: „Die Explosion der Nebenkosten ist ein extremes Kündigungsrisiko – dieses Risiko muss abgesichert werden.“ Haas forderte Betroffene auf, sich bei der Stadt zu melden und Wohngeldanträge zu stellen.

Das Fazit der Erkenntnisse des 4. Lebenslagenberichts? „Wohnen ist ein Menschenrecht“, fasste Jo Jerg zusammen. Gleichzeitig verpflichte Eigentum, aber „Boden ist auch nicht vermehrbar“. Grundsätzlich dürfe Wohnen nicht dem kapitalistischen Markt überlassen werden, sagte der Professor. „Wohnraum muss bezahlbar sein.“

INFO:

Vierter Lebenslagenbericht digital

Der vierte Lebenslagenbericht kann online eingesehen werden, unter der Adresse www.eh-ludwigsburg.de/hochschule/campus-reutlingen/praxisforschung sind die insgesamt vier Teile des Berichts inklusive der Zusammenfassung im ersten Teil abrufbar. Zudem findet sich auf der Homepage auch ein Erklärvideo, das in aller Kürze das Thema „Menschen in Wohnungsnot“ erläutert.

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