Die Zeit gerade ist der Hammer, oder? Ein Fest am anderen, ein Konzert am nächsten, ein Theaterstück folgt auf das vorherige. Ist das Normalität? Es fühlt sich nicht unbedingt so an. Nach zwei Jahren Corona und der Abwesenheit von fast jeglichen Zusammenkünften. Es ist zwar schön, mal wieder öffentlich mit anderen Menschen zusammen handgemachter Musik zu lauschen. Im Echaz-Hafen beim franz. K oder am gestrigen Freitag im Spitalhof. Ein Liebesliederabend mit Heiner Kondschak und seiner annähernd 40 Jahre jüngeren vermeintlichen Geliebten. Ein schöner Abend. Doch am Schluss sagten beide: Alles Fake, wir sind kein Liebespaar. Wie schade? Oder: Wie gut für die schwangere junge Frau? Egal.
Und dennoch: Die Zeiten sind verrückt. Ich bin mit Terminen bis über beide Ohren eingedeckt, weiß manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich sehne den August herbei. Sommerferien. Ruhigere Zeiten. Und dann? Was mag der Herbst bringen? Das sagen fast alle Menschen, mit denen ich spreche. „Wer weiß, was der Herbst bringt.“ Und das nicht nur in Hinsicht auf Corona: Rückkehr der Maskenpflicht? Wieder Testen wie verrückt? Wieder keine Veranstaltungen? Wer weiß. Und die nächste Impfung? Doch damit nicht genug. Was kommt im Herbst und dem darauffolgenden Winter? Gasknappheit? Frieren? Für den Frieden? Was für einen Frieden? Wird durch Gassparen ein Mensch weniger in der Ukraine umgebracht? Ist das eine verrückte Frage? Ja, natürlich. Weil uns vielleicht gar nichts anderes übrig bleibt, als Gas zu sparen. Weil der böse Putin den Gashahn zudreht?
Die ZEIT hat Reporter quer durch Deutschland geschickt und Menschen zur momentanen Stimmungslage befragt. Das Fazit? „Einer Studie des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold zufolge versuchen inzwischen immer mehr Menschen in Deutschland, die Tragödie in der Ukraine auszublenden.“ Ja, denke ich. Wir sind kriegsmüde geworden. Die täglichen Toten gehen fast spurlos an uns vorbei. Oder wir schauen schon gar keine Nachrichten mehr. Und dann blicke ich auf die Demo der Seebrücke heute in Reutlingen. Viel zu wenige Menschen haben sich dem Zug durch die Stadt angeschlossen. Maximal 100. „Kein Mensch ist illegal“, war dort zu lesen. Keine Mauern um Europa bauen. Alle Flüchtlinge sind willkommen. Eine Frage stand im Raum: Sind Flüchtlinge aus der Ukraine mehr wert, als diejenigen, die über das Mittelmeer kommen? Der Vergleich verbietet sich, eigentlich. Aber: Wenn 80 Prozent der mehr als 2000 Flüchtlinge aus der Ukraine im Landkreis Reutlingen privat in Wohnungen untergekommen sind, dann verwundert das schon. Sie leben jetzt in Wohnungen, die es zuvor offiziell gar nicht gab. Muss das den „anderen“ Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, aus afrikanischen Ländern nicht sauer aufstoßen? Oder all den anderen Wohnungssuchenden?
„Lauter widersprüchliche Gedanken und Gefühle scheinen Platz zu finden, in diesem Sommer 2022. … Es ist als gäben sich die Deutschen dem Sommer, der Sonne, der Sommer-Sonnen-Ferien-Laune auch in dem Wissen hin, dass der Herbst schlimm werden könnte“, heißt es am Schluss des Artikels in der ZEIT. „Die Deutschen, so scheint es, leben in diesem Sommer noch einmal aus dem Vollen. Und zugleich unter Vorbehalt.“ Ja, vielleicht ist das so. Hinzu kommt ja, das Gefühl, die vergangenen zwei Jahre allzu viel verpasst zu haben. Zu viele Begegnungen nicht gehabt. Zu viele Feiern nicht gefeiert. Zu viele Konzerte nicht erlebt. Wir wissen ja mittlerweile gar nicht mehr, was „normal“ ist – das Feiern, so wie es vor Corona war? Oder die Vermeidung von Festen, Feten, Veranstaltungen? Doch jetzt wird in allen Dörfern gefeiert, bis die Schwarte kracht. Ohne Abstand. Ohne Masken. Ohne Rücksicht auf Corona. Und die Inzidenzzahlen? Die interessieren keinen Menschen mehr. „Wir dürfen doch.“ Und wenn wir ganz offiziell dürfen, dann aber heißa, hoppsassa.
Und dann wieder diejenigen, die während der Feier sagen: Ohje, der Herbst. Wer weiß, was da kommt. Ja. Schlägt Corona dann wieder radikal zu? Steigen die Todeszahlen wieder rapide an? Kommt es zu der angekündigten Gasknappheit? Zur weiter steigenden Inflationsrate? Werden wir frieren müssen? Womöglich sogar kalt duschen? Geraten immer mehr Menschen in Wohnungsnot? Menschen, die ihre Nebenkosten nicht mehr bezahlen können? Menschen, die mit den steigenden Lebensmittelkosten nicht mehr mithalten können? Kommt es zu Hunger, Not, Unruhen? Wer weiß. Doch jetzt ist Feiern angesagt. Am Montag wird wieder alles in den Zeitungen stehen, wo überall gefestet wurde. Und am Dienstag auch. Weil die Zeitungsseiten am Montag für all die Festivitäten vom Wochenende in allen Orten gar nicht ausreichen.
Und auch mir steht ja der Sinn nach Ablenkung. Nach – nicht-mehr-an-all-die-Katastrophen-denken-müssen. Und trotzdem: Wir dürfen die Menschen im Mittelmeer nicht vergessen, die dort täglich absaufen. Und wir dürfen nicht müde werden, den Krieg in der Ukraine zu verurteilen. Wir dürfen all die Probleme in unserer Umgebung nicht einfach ignorieren. Wegdenken. Viel zu viele Menschen leiden unter den schrecklichen Bedingungen. Wir müssen uns solidarisch zeigen. Partei ergreifen. Nicht müde werden, die Missstände anzuprangern. Wir dürfen den Traum von einer besseren, gerechteren Welt nicht aufgeben. Von einer Welt ohne Putins. Ohne kriminelle Clans. Ohne Umweltverschmutzung. „An guten Tagen glaube ich daran“, hatte vor kurzem eine hoch engagierte Frau gesagt. Ja.