1 Auf dem Weg nach Hamburg und Amrum

0

Wir sitzen im ICE nach Hamburg. Die Anfahrt mit dem IRE von Reutlingen nach Stuttgart verlief problemlos, erstaunlich nur, was für ein unglaublicher Betrieb auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof herrschte. Ein Zug nach Paris-Est stand auf „unserem“ Gleis bereit, wir waren rund eine halbe Stunde zu früh dran. Aber: Interessant, den Menschen zuzuschauen, wie sie – genau wie wir – warteten. Oder eben voller Hektik noch versuchten, den ICE nach Paris zu kriegen. „Paris wäre doch auch nicht schlecht“, sagte ich zu Bine. Zumal der Zug gerade mal drei Stunden und ein paar Minuten bräuchte. Mal wieder Sacre-Coeur sehen. Notre-Dame, la Seine, la toure Eiffel, Montmartre und vieles mehr. Wäre doch eigentlich mal wieder schön.

Stattdessen sitzen wir dann pünktlich im Zug nach Hamburg. Wie die Gedanken, so fliegen auch die Häuser, Straßen, Landschaften am Fenster vorbei. Jede Menge Strommasten, Industriegebiete, Aral, McDonalds an der Strecke. Rasend schnell geht es voran, in wenigen Minuten sollen wir schon in Mannheim sein. Wahnsinn. So ein Zug scheint fast so was wie eine Zeitmaschine zu sein. Gerade noch in Reutlingen, jetzt schon bald in Hamburg. In einer anderen Welt. Die Elbphilharmonie wollen wir uns morgen anschauen. Sonst haben wir noch keine Pläne. Das befreundete Ehepaar besuchen. Bei ihnen übernachten. Am Samstag dann weiter nach Amrum. In Hamburg am Hauptbahnhof erst noch Markus treffen, der mit uns dann weiterfährt.

Ankunft Mannheim. „Jetzt wird’s voller“, sagt Bine. Bisher hatten wir einen Vierer-Tisch in einem Großraum-Wagen für uns allein. Sehr angenehm. Könnte so bleiben, denke ich. Mal sehen. Die S4 am gegenüberliegenden Gleis fährt nach Bruchsal, auf dem Zug steht Speyer. Wir sind also schon in fremden Landen angekommen. Bahn Rhein-Neckar, gerade noch Baden-Württemberg, bald schon Rheinland-Pfalz, vermute ich. „Der Zug ist zwei Minuten zu früh in Mannheim angekommen“, hieß es. Man könne raus, zum frische Luft schnappen. 534 Kilometer sind es von Stuttgart nach Hamburg Altona, durchschnittliche Fahrdauer 5 Stunden 47. „Ich erfahre soeben, dass unser Zug nicht am Flughafen Frankfurt hält, wegen einer Baustelle wird er umgeleitet direkt nach Frankfurt Hauptbahnhof. Alle Passagiere, die zum Frankfurter Flughafen wollen, müssen in Mannheim aussteigen und den ICE 610 nehmen, der in 20 Minuten hier abfährt. No stop at Frankfurt Airport today.“ „Wie gut, dass wir nicht zum Frankfurter Flughafen wollen“, sage ich zu Bine. Aufgrund der Umleitung kommen wir jetzt schon mal 25 Minuten später in Hamburg Hbf an, meint Bine.

„Nicht dass Sie sich wundern, wir fahren jetzt in die Gegenrichtung, um direkt zum Hauptbahnhof Frankfurt zu kommen“, sagt der Zugführer. Der Grund dafür? Eine „umfangreiche Baustelle bei der ad hoc entschieden wurde, sie zu umfahren.“ Das hört sich nicht wirklich überzeugend an. Umfangreiche Baustelle? Und dann ad hoc-Entscheidung? Bine trinkt derweil ihren mitgebrachten Kräutertee aus der Thermoskanne. Riecht fürchterlich gesund. „Mein Name ist Tobias Jost, für all die Unannehmlichkeiten und das Chaos hier in Mannheim bitten wir um Entschuldigung.“ Naja. Nett ist er ja, der Tobi.  Sehr bemüht. Und eigentlich kann er ja nichts für die Entscheidung anderer. Aber Ihr wisst ja wie das war früher, mit den Boten, den Überbringern schlechter Nachrichten, die man einfach, Kopf kürzer und so … Ach ja, was waren das noch für Zeiten. Obwohl die Boten ja gar nichts dafür konnten, für die schlechten Nachrichten.

Nach einer Fast-Vollbremsung haben wir (fast) in Weinheim-Sulzbach gehalten. Ein Bahnhof ohne Bahnhofsgebäude. Zwei Gleise, eins in jede Richtung, zwei Bahnsteige, sehr schmal. Eigentlich klar, dass der Zug, der ja nun auf ungewohnter Strecke fahren muss, immer wieder ausgebremst wird. Anrollen, der Zug nimmt Fahrt auf. Und schon wieder eine Fast-Vollbremsung, wir bewegen uns sehr gemächlich, Hemsbach ist draußen zu lesen. Und jetzt, jetzt steht der Zug tatsächlich. Fahrkartenkontrolle. „Alles klar, dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Weiterfahrt“, sagt der junge Mann. „Ja, das wünsche ich Ihnen auch“, sage ich. Er lacht. „Dankeschön“, meint er. Nett.

„Wir hatten Glück im Unglück, ein ICE hinter uns ist evakuiert worden“, sagt der Ansager bei der Einfahrt in Frankfurt Hbf. Die Skyline der Mainmetropole kommt in Sicht und eine Frau steigt ein, sie bleibt vor Bine stehen und sagt: „Das ist mein Platz, Nummer 26.“ Bine sucht die Fahrkarte: „Nein, sehen Sie hier, Nummer 25 und 26 sind unsere Plätze.“ Die Frau schaut verwirrt, fragt dann: „Ist das Wagen Nummer 3?“ „Nein, Nummer 4“, sagen wir. „Oh, sorry“, sagt die Frau. Eine Durchsage an den Gleisen: „Der ICE mit der Nummer … fällt heute aus. Der Grund dafür ist eine Reparatur.“ Der Ansager klingt so, als wäre ihm jede einzelne Durchsage hochpeinlich, fast ist schon Verzweiflung durchzuhören. Die Weiterfahrt geht in die gleiche Richtung zurück – hoffentlich wissen die, was sie tun, denke ich. „Oder ist Frankfurt auch ein Sackbahnhof“, fragt Bine. Was für ein blöder Name. Sackbahnhof. Obwohl – wie Sackgasse. „Aktuell haben wir eine Verspätung von 30 Minuten“, sagt der neue Ansager, der nicht mehr Tobi ist. Offensichtlich ist der nicht so mitteilungsbedürftig wie sein Vorgänger.

Kassel-Wilhelmshöhe, sehr dunkler Bahnhof. Kaum Tageslicht. 29 Minuten Verspätung, sagt der Ansager, dessen Name nicht zu verstehen ist. Die Sonne scheint immer noch. Aber: Die Temperaturen sollen ja auf der Reise nach Norden deutlich fallen. Bei vorausgesagten 31 Grad im Südwesten, sollen es im Norden nur schlappe 14 sein. Wir werden sehen.

Wenige Minuten später schon der nächste Halt: Göttingen. Ein Allerwelts-Bahnhof, unauffällig, so wie hunderte andere Stationen in Deutschland. Viele Gleise, Bahnsteige, nichts, was im Gedächtnis hängenbleiben könnte. „Noch ein außerplanmäßiger Halt vor Hannover, Grund dafür ist ein anderer Zug, der unser Gleis belegt“, sagt die Stimme aus dem Off. Seit mindestens zehn Minuten standen wir in einer Industriebrache, bis sich der Zug endlich wieder in Bewegung setzt. „Willkommen in der Messestadt“, steht auf einem Schild am Bahnsteig. Draußen sind Menschen zu sehen. Wartend. Schlendernd. Manche schieben zwei Koffer durch die Gegend, andere haben einen riesigen Rucksack auf dem Rücken. Vier junge Männer kommen gemächlich heran, alle vier haben Bierflaschen in der Hand. Wie auf Kommando bleiben alle stehen. Alle ziehen Zigarettenschachteln heraus, stecken sich eine Kippe ins Gesicht. Ich schau nach oben, ah, denke ich: „Raucherbereich“, ist da zu lesen. Dann sehe ich ein Metallgefäß hinter ihnen stehen, wie ein Taufbecken sieht das aus. Rauch steigt daraus hervor. Fast wie eine Art Altar. Verrückt. Rauchopfer werden dargebracht.

Ein Stöhnen dringt aus dem Zuglautsprecher. „Wir müssen eine technische Untersuchung am Zug durchführen, soweit ich weiß“, sagt die Stimme. „Soweit wir mehr wissen, werde ich mich wieder melden.“ Er klingt alles andere als glücklich. Voraussichtliche Ankunft in Hamburg Hbf momentan 17 Uhr 50, knapp eine Stunde später als geplant. Durchsage: „Der Zug gegenüber hält nicht am Hamburger Hauptbahnhof, sondern fährt durch bis Hamburg-Harburg. Wann es mit unserem Zug weitergeht, kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.“ 67 Minuten Verspätung. Aber immerhin, wir fahren wieder. Technische Untersuchung wohl abgeschlossen. Die Frau am anderen Tisch muss noch weiter von Hamburg nach Lübeck, dann nach Oldenburg und dort holt sie ihr Mann ab nach Fehmarn. Anstatt 20 Uhr wird sie wohl gegen 23 Uhr ankommen. Wenn sie Glück hat.

Wir fahren gerade 200 Stundenkilometer. Wahnsinn. Seit Hannover ist nicht mehr viel passiert. Flaches Land. Der Blick bleibt jeweils an der nächsten Baumreihe hängen. Und der Zug kann mal so richtig Gas geben. Wesentlich Zeit gut machen wird er damit aber auch nicht mehr. Dafür haben wir einen Erstattungsbogen geschenkt gekriegt. Mehr als eine Stunde Verspätung haben wir ja schon. Ab zwei Stunden gibt es die Hälfte des Fahrpreises zurück. Bei einer Stunde sind es … 25 Prozent, wie ich gerade im Internet gefunden habe. Immerhin – wenigstens das WLAN im Zug funktioniert. Zuverlässig war das vor vier Jahren, bei unserer letzten Fahrt nicht. Offensichtlich hat sich wenigstens das verbessert.

Share.

Comments are closed.