Seit Beginn des Krieges in der Ukraine treffen sich jeden Montagabend mehrere Dutzend Menschen aller Glaubensrichtungen am Baum der Religionen im Reutlinger Bürgerpark, um für Frieden zu beten
„Im Namen Allahs, des Barmherzigen, leite uns den geraden Weg, Friede sei mit allen“, sagte Abdoul Moumini Zampaligre von der Internationalen Islamischen Gemeinschaft am Montagabend im Reutlinger Bürgerpark. Neben ihm stand Mordechai Mark Pavlovsky, der als Gemeinderabbiner aus Esslingen auch für die Region Reutlingen-Tübingen zuständig ist: „Anfangs hatten wir noch die Hoffnung, dass der Krieg in der Ukraine schnell vorbei sein würde.“ Seit dem Montag vor dem 24. Februar – also vor dem Beginn des Angriffs der russischen Truppen auf die Ukraine – versammeln sich Vertreterinnen und Vertreter aller Weltreligionen aus dem Reutlinger Rat der Religionen neben der Stadthalle. Sie beten gemeinsam für Frieden. Doch nicht nur bezogen auf die Ukraine – sondern auch auf all die anderen kriegerischen Konflikte, die momentan die Welt erschüttern. Wie im Jemen etwa. Oder in Afghanistan. Nicht zu vergessen, die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf zahlreiche arme afrikanische Länder, die sich die steigenden Preise für Weizen nicht mehr leisten können, wie Frieder Leube betonte.
Auch am Ostermontag trafen sich rund 30 Reutlingerinnen und Reutlinger am Baum der Religionen. „Oh, du gütiger Gott, du hörst die Schreie der Menschen, beruhige diese vernichtenden Stürme“, sagte Monoucher Fani als Vertreter der Baha‘i Gemeinde. Leube zitierte als Sprecher des Rats der Religionen aus einem neuen Psalm gegen den Ukraine-Krieg von Stephan Wahl, einem katholischen Priester in Jerusalem: „Entsetzt höre ich die Nachrichten, kann es nicht fassen, Soldaten marschieren, kämpfen und sterben. Es ist Krieg. Der Wahn eines Mächtigen treibt sie zu schändlichem Tun, mit Lügen hat er sie aufgehetzt, mit dem Gift seiner Hassreden.“ Aber: „Nicht entmutigen lassen sollen sich alle, die an den Frieden glauben, die unverdrossen ihre Stimme erheben, gegen Verführer immun sind“, so Leube. Pavlovsky, der selbst in Russland geboren wurde, sprach von der „Versklavung des Bewusstseins“, der Gedanken und auch der Sprache, denn: Krieg dürfe man in Russland nicht sagen, wer Frieden fordert, werde verhaftet. „Wir dachten, dass die Sklaverei vorbei ist, doch leider wiederholt sich die Weltgeschichte.“
Die Zusammenkunft am Baum der Religionen im Reutlinger Bürgerpark neben der Stadthalle ist zu einer Tradition geworden. „Seit sieben Jahren treffen wir uns hier jeden Montag um 18 Uhr 30 meist vom Ende der Herbstferien bis Weihnachten, um gemeinsam zu beten“, erläuterte Frieder Leube. „Angesichts des Krieges in der Ukraine, hatten wir das Gefühl, nicht länger schweigen zu können, deshalb sind wir auch jetzt seit Wochen hier.“ Die Bedrohung wurde schon vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar deutlich, drei Tage zuvor trafen sich bereits friedensliebende Reutlinger aller Religionen an diesem besonderen Baum getroffen – ein Baum, der doch genauso aussieht, wie die anderen Bäumchen im Bürgerpark. „Er wurde von den unterschiedlichen Religionen hier in Reutlingen gemeinsam gespendet“, sagte Leube. Die Idee, genau dort gemeinsam Gebete zu sprechen, geht auf einen Gesprächskreis der Religionen zurück – und aus diesem Kreis heraus ist der Reutlinger Rat der Religionen entstanden, wie Mansoor Ghuman, der Imam der Ahmadiyya Muslim Jamaat Gemeinde, erläuterte. „Der Baum ist ein Symbol des Lebens“, sagte Ghuman. In dem Rat ist im Übrigen mit Bürgermeister Robert Hahn auch die Stadt vertreten. „Die Kunst ist, dass sich hier alle Religionen versammeln, dass sie miteinander reden und beten“, betonte Zampaligre.
„Blut wird in der Ukraine vergossen – lösche das Feuer, damit die Sonne der Wirklichkeit leuchtet, mit den Strahlen der Versöhnung“, sprach Fani in seinem persisch vorgetragenen Gebet, das seine Frau zuvor übersetzt hatte. „Dieser schreckliche Krieg dauert schon zwei Monate, Flüchtlinge sind auch zu uns in die jüdische Gemeinde gekommen, sie erzählen schreckliche Dinge, von denen vieles nicht im Fernsehen gezeigt wird“, so Mordechai Pavlovsky. Bei jedem Treffen der Religionen zwischen Echaz und Stadthalle kamen in den vergangenen Wochen jeweils 50 bis 100 Menschen zusammen. „Heute am Ostermontag sind es wegen des Feiertags ein paar weniger“, sagte Leube. Ob die gemeinsamen montäglichen Gebete im Mai weitergehen, sei noch nicht klar. „Wir müssen das im Rat der Religionen besprechen, hoffen natürlich, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist“, sagte Frieder Leube. Zusammen mit Daniela Reich von der Evangelischen Landeskirche leitet er die montäglichen Treffen.
„Ich hoffe, dass unsere Gebete in dieser besonderen Zeit die dreifache Kraft haben werden“, so der Rabbiner Pavlovsky, der jeden Montag aus Esslingen anreist. „Ich bin so froh, dass sich die Menschen hier treffen, dass alle Religionen zusammen für den Frieden beten – das ist für mich regelrecht eine Erlösung“, sagte Konrad Borst als einer der regelmäßigen Besucher der Gebete am Baum der Religionen.