Riesige Hilfsbereitschaft – 12. Woche 2022

0

Die Ukrainer halten seit mittlerweile einem Monat die Stellung. Die Russen bombardieren vor allem die Städte im Osten der Ukraine mit immer größerer Macht, mit immer mehr Raketen. Von Charkiw sei nicht mehr viel übrig, heißt es in unseren Medien. Gestern sah ich in den Nachrichten eine Frau, ich glaube, es war in den Trümmern von Mariupol. Sie sagte, sie habe nichts mehr zu essen, die Nächte in dem kalten, nassen Keller macht ihr zu schaffen. Um sie herum waren nur Trümmer. Zerbombte Häuser. Wie kann man in solch einer Umgebung überleben? Wie kann man überhaupt überleben im Krieg? Angesichts einer unglaublichen Übermacht? Vor wenigen Tagen hieß es, russische Truppen seien 70 Kilometer zurückgedrängt worden. Wie ist das möglich? Und: Stimmt das überhaupt? Oder ist das Kriegspropaganda? Dieses Mal von der ukrainischen Seite? „Die Meldungen sind nicht überprüfbar“, heißt es bei uns in den Nachrichten immer wieder.

Klar ist aber, dass bisher schon zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen sind. Ein Reutlinger, Markus Brandstetter vom Verein „Drei Musketiere“, hat viele von den Geflüchteten an der polnischen Grenze gesehen. So was habe er noch nicht erlebt, sagte Brandstetter nach drei Wochen an der polnischen Grenze oder auch auf ukrainischem Boden. Dabei hat er schon in vielen Flüchtlingslagern in Europa und der Türkei viel Leid gesehen. Aber so viele Menschen auf einmal, die in heilloser Flucht ihr Land verlassen. Um zu überleben. Was für ein Wahnsinn. Und genau das sei auch die Absicht von Putin, habe ich diese Woche gelesen. Er habe das mit der russischen Armee schon in Syrien, in Aleppo geprobt: Eine Stadt dem Erdboden gleich machen. Die Menschen ermorden. Oder eben vertreiben. Einen gigantischen Flüchtlingsstrom auslösen. Damit der Westen und die Demokratien dort als Aufnahmeländer destabilisiert werden. Was für eine perverse Niedertracht – ich suche seit Wochen nach Worten, mit denen ich normalerweise nicht umgehe. Perfide, Niedertracht, Perversität des Krieges, menschenfeindlich, menschenverachtend. Worte, die mir bislang vielleicht in Bezug auf die Vergangenheit, auf die Deutschen zwischen 1933 und 1945 einfielen. Und jetzt haben sie eine aktuelle Realität erreicht, die ich mir nie hätte vorstellen können.

Bin ich nicht, wie so viele andere Deutsche auch, davon ausgegangen, dass wir solche Zeiten, solche Despoten hinter uns gelassen haben? Dass wir aus der Geschichte gelernt haben? Und dass sich auf die Dauer die Demokratie tatsächlich als beste Staatsform durchsetzen wird? Ein Weltbild ist für mich und viele andere Menschen zusammengebrochen. Spätestens seit dem Mauerfall, seit dem Ende des Kalten Krieges dachten wir doch, dass die Konfrontationen zwischen Ländern und Völkern der Vergangenheit angehören, oder? Und wir haben dabei übersehen, dass die Kriege im Rest der Welt ja weitergingen. Dass die USA ihre Interessen auch im Irak verteidigen wollten. Mit Lügen sind sie in den Krieg eingetreten. Und sind dann in Afghanistan nach Jahrzehnten wieder abgezogen, weil sie einsehen mussten, dass sich Demokratie nicht exportieren lässt. Sondern, wenn überhaupt, in den Ländern selbst wachsen muss. Die Welt hat zugesehen, wie in Syrien ein Machthaber sein eigenes Land zerstört. Und Putin dazu eingeladen hat, dabei mitzumischen. Wie kann man so was nur machen? Und die Welt sieht zu, wie in anderen Regionen der Welt Menschen zu Millionen ermordet werden. Oder am Hunger sterben. Klar, Sudan ist weit weg. Bei Syrien war es nicht mehr ganz so weit, schließlich kamen die Menschen aus den zerbombten Gegenden nach Europa.

Und jetzt kommen Millionen Menschen aus der Ukraine nach Westeuropa. Vor fünf Wochen wusste ich nicht einmal, dass es Städte wie Mariupol und Charkiw überhaupt gibt. Jetzt gibt es sie tatsächlich fast nicht mehr. Weil sie mit unglaublicher Brutalität dem Erdboden gleichgemacht werden. Polen zeigt sich unwahrscheinlich hilfsbereit, nachdem vor wenigen Wochen noch an der polnisch-belarussischen Grenze Flüchtlinge, die nach Europa wollten, zurückgeknüppelt wurden. Nun nehmen die Polen Flüchtlinge zu Millionen auf. Allein in Warschau sind seit Beginn des Krieges 320 000 Geflüchtete untergekommen, in einer Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern. Die Polen seien selbst überrascht, über ihre eigene Hilfsbereitschaft, hieß es in der ZEIT. Doch wie geht das weiter? Rund 2,3 Millionen Ukrainer würden nach Deutschland kommen, allein Baden-Württemberg müsse knapp 300 000 Ukrainer aufnehmen, hat der Reutlinger Landtagsabgeordnete Thomas Poreski gesagt. 2,5mal so viele Geflüchtete wie 2015. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, die Verwaltungen sind teilweise überfordert. (Bericht dazu siehe hier auf der Homepage unter „Hilfe für geflüchtete Ukrainer läuft an“). Erschüttert und auch erstaunt war ich in dieser Woche, als ich zu einem Termin nach Gönningen bin. 46 ukrainische Geflüchtete sind dort angekommen. Sie wirkten sehr gefasst. Froh, dass sie dem Krieg entkommen sind. Den Blick hatten sie auf die Herausforderungen hier in Deutschland gerichtet: Wie geht es weiter? Wie können sie eine Wohnung finden? Können ihre Kinder hier in die Schule, in Kindergärten gehen? „Ich werde mich persönlich für eine Vorbereitungsklasse in Gönningen einsetzen“, versprach Bezirksbürgermeisterin Christel Pahl. Ein Netzwerk Flüchtlinge, das schon seit 2015 besteht, hilft dort an allen Ecken und Enden. Bewundernswert.

Share.

Comments are closed.