Eindrücklich, empfindsam und erschreckend

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Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte der Musikschule Reutlingen verleihen den Geschichten von zwei Flüchtlingen aus Syrien musikalisch ihre Stimmen – Hedda Seischab hat das Konzert konzipiert, komponiert und die Texte geschrieben

„Mir fehlen die Worte“, sagte Ines Fischer gleich nach der Konzert-Lesung in der Reutlinger Kreuzkirche am vergangenen Sonntag. Nach einigen Sekunden fand die Asylpfarrerin ihre Sprache wieder: „Sehr beeindruckend, wie Hedda Seischab es geschafft hat, der Geschichte von zwei Geflüchteten aus Syrien eine Heimat zu geben.“ Und genau das waren Text und Musik von Seischab auch – eindrücklich, berührend und empfindsam. Doch die Autorin und Komponistin gab den Dank sofort weiter an die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte der Reutlinger Musikschule: „Ihr habt wunderbar die Musik mit ganz viel Herz und Seele gespielt.“

Den Geschichten von Abdul Albaset und Samir Latifa hat Anne Munding ihre Stimme gegeben – sie las die Erlebnisse der jeweiligen Flucht mit viel Empathie vor. Seischab hatte die Erinnerungen der beiden Syrer niedergeschrieben. „Von Damaskus nach Reutlingen“ lautete die Überschrift darüber. Aus einem Vorort von Damaskus stammt Abdul, er berichtete von einem friedlichen Leben dort, von seinem Garten, gutem Essen. Er leitete einen Supermarkt, so lange, bis sein Haus von einer Rakete getroffen wurde. Einem neunjährigen Nachbarsjungen wurde der Kopf abgerissen, einer Tochter ein Arm, einem Neffen ein Bein. Abduls rechtes Bein wurde insgesamt siebenmal operiert, sein linkes hatte Löcher. „Seine jüngste Tochter sprach seit diesem Tag nicht mehr“, so Munding.

Über den Libanon floh Abdul am 31. Oktober 2015, von dort flog er in die Türkei, mit einem Boot kamen sie in ein Lager nach Lesbos. „Lana war sehr traurig, weil sie dort viele Kinder mit zwei Armen sah.“ Mit dem Schiff ging es weiter nach Athen, von dort nach Mazedonien. Die Lesung von Munding wurde an einzelnen Stationen ergänzt, von der Musik, die Hedda Seischab selbst komponiert oder arrangiert hatte. Albanische Klänge wurden von den Musikerinnen und Musikern der Musikschule intoniert. Klänge aus dem Libanon, aus Serbien, Kroatien, Österreich und Deutschland waren zu hören, ließen viel Platz für die Gedanken und Emotionen der Zuhörer.

Abdul und seine Tochter kamen schließlich am 8. November 2015 nach Meßstetten, eine Flüchtlingsunterkunft mit 4000 Menschen. Doch die Situation seiner Familie in Syrien wurde immer bedrohlicher. Die Frau schlug sich zu Fuß mit den beiden anderen Töchtern unter unsäglichen Bedingungen bis in die Türkei durch. Abdul hatte die Familienzusammenführung arrangiert, sie leben heute zusammen in Obermarchtal. „Es gibt Menschen, die noch viel mehr verloren haben“, sagte Abdul.

Der Chemiker Samir Alrajab lebte mit seiner Familie in Homs, er war zuständig für ein Ölfeld. Als der IS vorrückte und das Ölfeld anzündete, in seinem Dorf der Strom abgestellt wurde, entschloss sich Samir zur Flucht. „Er ging allein, das erschien ihm sicherer“, sagte Munding. Er war auf der gleichen Route unterwegs wie Abdul. In der Türkei wurde er zusammen mit 45 anderen Flüchtlingen in einen kleinen Transporter gepresst, „ich konnte kaum atmen“. Viel Geld hatte er den Schleusern bezahlt „und dann werde ich transportiert wie ein Tier?“ Lange Strecken auf der Balkanroute musste er zu Fuß zurücklegen. Doch er schaffte es schließlich bis nach Kirchentellinsfurt, wo auch er heute mit seiner Familie lebt.

„Nach mehr als zehn Jahren Krieg herrscht in Syrien bitterste Not“, sagte Anne Munding. „Die Bilder aus Syrien ähneln denen aus der Ukraine.“ In beiden Ländern agiert der russische Präsident Putin, „ohne ihn wäre die Zerstörung Syriens nicht möglich gewesen“. 6,6 Millionen Syrer haben ihre Heimat verlassen, 3,7 Millionen leben in der Türkei, 6,7 Millionen sind in ihrem eigenen Land auf der Flucht. Mehr als eine halbe Million Syrerinnen und Syrer wurden ermordet, berichtete Munding. „Frieden ist nicht in Sicht, können wir was tun? Ja, wir können dort, wo wir stehen, Zeichen setzen, Solidarität mit den Opfern in allen Kriegsgebieten zeigen.“ Die Spenden, die nach der Konzert-Lesung gesammelt wurden, gingen an die Asylarbeit – um die Familienzusammenführung zu unterstützen. „Als die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine hierherkamen, haben syrische Frauen Geld für sie gesammelt“, berichtete Ines Fischer abschließend.

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