Der Wahnsinn schreitet voran – 10. Woche

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Was nicht denkbar war, ist Realität geworden: Ein irre gewordener Machthaber versucht ohne Rücksicht auf Verluste, Menschenrechte, Menschenleben, ein ganzes Volk auszulöschen. Er lässt Atomkraftwerke mit Raketen beschießen, braucht gar keine Atomwaffen einzusetzen, um womöglich ganze Regionen, Landstriche (ganz Europa, halb Russland?) unbewohnbar zu machen. Was reitet diesen Verrückten? Warum greift niemand aus seiner Umgebung ihm in die Zügel? Warum funktioniert so ein System, ganz genau so wie es unter Hitler auch funktioniert hat?

Das macht mir Angst. Das erinnert mich an die Krebserkrankung meiner ersten Frau, die vor mittlerweile elf Jahren gestorben ist. Ich fühle wieder die Aussichtslosigkeit, die Tiefschläge und die Hilflosigkeit, der ich mich damals ausgesetzt gefühlt habe. Ich gerate regelrecht in Panik angesichts dieser momentanen Bedrohung, die ja tatsächlich die gesamte Menschheit vernichten kann. Nicht nur könnte, sondern kann. Die Bedrohung ist real, nicht so wie beim Kalten Krieg, eine potenzielle, abstrakte Gefahr.

Ich habe meinen Nachrichtkonsum schon drastisch runtergefahren, kann die Bilder des Krieges nicht mehr anschauen, halte sie nicht aus. Ich gerate regelrecht in Panik, wenn ich mir die Bomben auf die Häuser der Menschen vorstelle, ihre Flucht mit fast nichts, außer den Kleidern am Leib. Die ukrainischen Soldaten, die verzweifelt versuchen, der Übermacht der russischen Angreifer zu widerstehen. Ich werde wütend, wenn ich Äußerungen von Außenminister Lawrow oder von Putin höre, die behaupten, sie hätten niemanden angegriffen, sie würden sich nur verteidigen. Was für ein Hohn. Ich könnte schreien vor Wut, angesichts solcher Unverfrorenheit, solcher Verdrehung der Tatsachen. Die Frage, warum niemand den Putin umbringt, habe ich bei unzähligen Gesprächen immer wieder als Äußerung gehört. Ja, vielleicht wäre das die einzige Lösung. Doch wer sollte das tun? Ein Elser, ein Staufenberg die es bei Hitler auch nicht geschafft haben? Gibt es überhaupt noch oppositionelle Kräfte in Russland? Aber es müsste ja jemand aus dem engsten Kreis von Putin sein, andere kommen doch gar nicht an ihn heran …

Verzweiflung macht sich bei mir breit angesichts der scheinbaren Aussichtslosigkeit der momentanen Weltlage. Corona ist ja auch noch nicht vorbei, hier in Reutlingen ist das an den samstäglichen „Demonstrationen“ abzulesen. Gestern Abend war ich dabei. Als Berichterstatter. „Friede, Freiheit, Selbstbestimmung“, riefen die rund 7500 Leute, zumindest am Kopf des Demonstrationszuges. Obwohl: Noch ein Stück weiter davor liefen ja rund 15 Polizisten, zusammen mit einem Polizeiwagen, die den Tross durch die Altstadt lenkten dröhnender Musik aus Lautsprechern . Alles blieb friedlich – bis auf den Lärm, den der Pulk mit Trommeln, Trillerpfeifen und veranstalteten. Oftmals war außer Lärm gar nichts zu verstehen. Mit tun die Anwohner leid, die sich diesen Krawall jeden Samstagabend anhören müssen. Und die Polizeikräfte, die jedes Wochenende zuhauf gefordert sind. Wie viele es sind, wollten Einsatzleiter und Pressesprecher nicht sagen. „Aus taktischen Gründen“, hieß es. Aus dem Demonstrationszug heraus stach vor allem eine griechische Fahne. Was der Träger damit ausdrücken wollte? … Und: Zwei Jugendliche liefen phasenweise zwischen Polizisten und Demo-Kopf mit und riefen: „Impfen hilft, impfen hilft.“ Die Frauen an der Spitze hingegen feuerten ihre Mitdemonstranten immer wieder an, Freiheit zu fordern. „Für die Pflege auf die Straße, für die Ärzte auf die Straße.“ Was wohl der größte Teil des Pflegepersonals und der Ärzte dazu sagen würde? Als die Frauen dann auch noch skandierten „Für die Gesundheit auf die Straße“ wurde es mir zu bunt. Beim Verlassen des Demo-Zuges hörte ich noch, wie sie mir scheinbar hinterherriefen: „Wir sind keine Nazis, wir sind aus der Pflege und wir sind viele.“ Ja. 7500. Und trotzdem eine enorme Minderheit.

Vom Klimawandel will ich hier gar nicht erst anfangen. Der wird auch wiederkommen. Mit Sicherheit schneller und katastrophaler als uns lieb ist. Wo sollen wir noch Hoffnung herholen? Es fällt im Moment schwer, bei all dem Wahnsinn noch irgendwoher Mut, Vertrauen und Zuversicht in die Zukunft zu finden. Vielleicht in Ablenkung. Rausgehen. Zumindest zwei, drei Stunden wandern, spazieren gehen. Natur erleben. Und irgendwie haben wir uns in diesen 18 Tagen Krieg ein Stückweit auch schon an die katastrophalen Meldungen gewöhnt.

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