Den Humor nicht verlieren – 5. Woche 2022

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Was schreibt ein Journalist, wenn er ausnahmsweise mal nichts zu schreiben hat? Also keine Auftragstermine bearbeiten muss? Gute Frage.

Oft hilft dann, den Blick zurück zu wagen – wenn der auch nicht gerade wirklich ermutigend ist: Ein Krieg an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland ist immer noch nicht vom Tisch. Putin beteuert zwar, er beabsichtige nicht, mit all seinen Truppen die ukrainische Grenze zu übertreten. Doch: Wer glaubt das tatsächlich? Und dann läuft der Wladimir zum Beginn dieser unsäglichen Olympischen Spiele auch noch mit Xi Jinping, dem chinesischen Allmächtigen, quasi Hand in Hand auf dem olympischen Teppich in Richtung … ja, wohin laufen sie denn? Zur gemeinsamen Welteroberung? Da könnte einem schon angst und bange werden. Und es wäre ja nicht so, dass es sonst keine beängstigenden Themen geben würde: Klimawandel, noch irgendwas mit K … wie hieß das noch mal? Katholische Kirche? Ach nee, nicht das auch noch, das ist ein für mich viel zu unappetitliches Thema. Sexuellen Missbrauch kriege ich nächste Woche wieder live und in Farbe im Landgericht vor Augen geführt. Das ist schlimm genug. Nein, dieses andere Wort mit K … ach, Corona war‘s. Hätte ich fast vergessen. Eigentlich auch kein Wunder, denn Inzidenzzahlen in nie gekannter Höhe berühren kaum jemanden mehr. Waren vor 1,5 Jahren noch Inzidenzen von über 100 eine pure Katastrophe und kaum denkbar, so sind heute 1400 gar nicht mehr erwähnenswert. Aber: Vor zwei Jahren war eh alles anders, da gab es ja auch kein Klopapier und keine Nudeln mehr. Weil alle gehamstert haben. Ach ja. Ich weiß. Jammern und Stöhnen bringt nicht. Aber …

Schauen wir doch mal, was sich hier in Reutlingen diese Woche getan hat. Die Vesperkirche hat ihre Halbzeit schon hinter sich. 400 Essenstüten täglich werden ausgegeben. Noch mehr als vergangenes Jahr. Kein Wunder, dass es hieß: „Armut nimmt zu.“ Auch versteckte Armut, von Menschen, die sich bislang nicht trauten, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Die pure Not treibt sie zur Vesperkirche“, hatte Joachim Rückle als Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands am Donnerstagabend betont, während einer Veranstaltung (und das auch noch öffentlich – ö f f e n t l i c h – in der VHS unter dem Thema „Armut in einer reichen Stadt“). Das Gespräch war obendrein auch online zu sehen – traurig, sehr traurig, dass sich nicht mehr als 20 Menschen (zumindest in den ersten 20 Minuten) digital zugeschaltet hatten. Wenn man überlegt, dass am Samstagabend 8500 Leute in Reutlingen „spazieren gegangen“ sind … Mit dem geringen Interesse an VHS-Veranstaltung wurde genau das bestätigt, was die Podiumsteilnehmer, vor allem aber Asylpfarrerin Ines Fischer und auch Undine Zimmer (die in einem Hartz-IV-Haushalt aufgewachsen ist) sagten: Die Solidarität mit den Armen fehlt.

Während die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, wie auch OB Keck betonte, interessiert das Schicksal der immer größeren Gruppe der Armen immer weniger Menschen. Seltsam? Eine Katastrophe ist das. Muss nun Solidarität von oben verordnet werden? Es sieht danach aus. Keck hatte den Neoliberalismus angeprangert. Dass seit Jahrzehnten die Menschen immer mehr nur an sich selber denken. „Gemeinnutz muss wieder vor Mein-nutz stehen“, hatte Helmut Treutlein als Zuhörer in der VHS gefordert. Egoismus pur, allerorten. Bei den Aufständen gegen Windräder ebenso wie bei Neubauten in der eigenen Umgebung oder auch den verbalen Attacken in den sogenannten „sozialen Medien“. Genauso wie bei den spazierengehenden Querdenkern. Dazu hatte im Übrigen Rüdiger Weckmann von den Linken am Donnerstagnachmittag bei einem Linken- Expertengespräch gesagt: „Also, am Samstagnachmittag, alle zum Marktplatz kommen, zum Geradeaus-denken.“ (Schöne Beschreibung!) In dem Online-Gespräch am Donnerstagnachmittag mit Vertretern der sozialen Einrichtungen in Reutlingen ging es auch um Armut. Und gleichzeitig um andere Benachteiligungen, durch Krankheiten etwa. Alkohol- oder drogenkrank. Psychisch krank. Oder einfach nur schwanger. Obdachlos. All diese Menschen suchen Wohnungen. Und finden keine. Weil es keinen sozialen Wohnungsbau in Reutlingen gibt, hatte Wolfgang Grulke von Ridaf ein Ergebnis des 4. Lebenslagenberichts vorweggenommen. Denn: Was als Sozialwohnung verkauft wird, können auch Menschen beantragen, die bis zu 60 000 pro Jahr Euro verdienen. Wie soll da ein Obdachloser, ein Mensch, der von sozialen Einrichtungen betreut wird, überhaupt eine Aussicht auf Wohnraum haben? Eben. Gar nicht. Das merken auch die sozialen Einrichtungen, die immer mehr als Mieter für ihre Klientel auftreten müssen.

Beide Artikel zu den zwei Veranstaltungen am Donnerstag sind im Übrigen hier auf dieser Homepage zu finden. Nur so. Falls es irgendjemanden da draußen interessieren könnte.

Ach. Die Welt ist schlecht. Gibt es nichts Positives im Moment? Ein Stimmungsaufheller für die kommende Woche? Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, dass die Sonne scheint. Wie schön. Kalt soll es sein, ja (ich war heute noch gar nicht vor der Tür). Aber eigentlich ist ja auch noch Winter. Und sonst? Um nicht in lauter Frust zu versinken, könnten wir uns ja mal wieder im Zungenbrechen probieren (auch auf dieser Homepage, in zwei Videos). Oder die Welt so sehen, wie sie auch sein könnte. Etwa bei einem Spaziergang durch den Zauberwald des Riesen Ehrenfried. Oder auf Cannabissuche bei Degerschlacht. Oder bei einer tollen Führung durch Johann Gottlob Steidele, der uns als Stiftsstudent aus dem Jahr 1840 Tübingen zeigte. Diese Bildergeschichten zeigen eine entrückte Realität, wie wir sie immer wieder bei unseren kurzen Wanderungen erleben. Das ist schön. Das macht nicht nur beim Fotografieren unheimlich viel Spaß, sondern auch beim Überlegen, welch fantastische Geschichten wieder daraus entstehen könnten. Wenn wir nicht hin und wieder die Fantasie springen und spielen lassen, die Welt durch die humorvolle Brille betrachten … dann könnte man ja sonst wirklich verzweifeln. Angesichts von Egoismus, Machtstreben, Ungerechtigkeiten, Klimawandel, Corona und vielem mehr. Also: Bei aller Ernsthaftigkeit, mit dem wir die Probleme der Welt angehen müssen, ein Rat von meiner Seite: Vergesst Euren Humor nicht.

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