Wir brauchen mehr Solidarität mit den Ärmeren

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Themenabend der Reutlinger Vesperkirche in Kooperation mit der Reutlinger VHS unter dem Motto „Armut in einer reichen Stadt“ mit OB Thomas Keck

Arm zu sein bedeutet in Scham zu leben. Arm sein macht ohnmächtig. Wütend. „Man muss sich immer wieder rechtfertigen, dass man doch einer von den guten Armen ist“, sagte Undine Zimmer am Donnerstagabend in der Reutlinger Volkshochschule. Zusammen mit der Vesperkirche ging es an bei dieser Veranstaltung um „Armut in einer reichen Stadt“ – wobei, so Oberbürgermeister Thomas Keck, Reutlingen weit davon entfernt sei, reich zu sein. Im Gegenteil: „Wir haben die größte finanzielle Krise in der Stadt seit dem Krieg“, so Keck.

Aber: Die Autorin Undine Zimmer weiß sehr genau, wie es sich anfühlt, arm zu sein – „ich bin Tochter von zwei Langzeitarbeitslosen und habe überall Diskriminierungs- und Demütigungsgefühle erlebt“. Ein Beispiel: Schon in der Grundschule waren die Brotdosen von Mitschülern immer cooler und bunter. Schullandheime? „Da war doch immer die Angst da, dass rauskommt, wenn man die Unterstützung annimmt.“ Auf das Mitleid Anderer angewiesen zu sein, könne sehr demütigend sein, sagte Zimmer. Dabei gebe es nun mal nicht den einen Armen, „Armut hat viele Gesichter“, bestätigte auch Dr. Joachim Rückle, Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands. Eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes von 450 Euro um 3 Euro „ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen“.

Auch Keck sah die desaströse Situation: „780 Wohngeldempfänger haben wir momentan in Reutlingen und die Zahl steigt – schon jetzt kostet das 1,7 Millionen Euro.“ Armut werde weiter zunehmen, auch aufgrund der rapide steigenden Energiekosten. Die Wohngelderhöhungen würden das nicht auffangen. Noch viel größere Armut beobachtet Asylpfarrerin Ines Fischer: Ein Asylbewerber, der abgelehnt wurde und seine Identität nicht nachweisen kann, erhält pro Monat 168 Euro. „Das sind pro Tag 5,60 Euro.“ Moderator und VHS-Chef Ulrich Bausch fragte: „Haben Asylbewerber weniger Hunger?“

Hinzu kommt laut Fischer bei vielen Asylbewerbern, dass sie in unsäglichen „Wohnungen“ leben müssten. Sie war bei einem Geflüchteten, der in einem „Zimmer“ im Keller wohnt, in dem es schimmelt, ohne Heizung, in dem winzigen Bad steige jedes Mal, wenn der Vermieter duscht, das Wasser in der Duschwanne an. „Das ist kein Einzelfall“, so Fischer. Warum wehren sich die Menschen nicht gegen die Zustände? „Die Menschen sind hilflos, es geht um Sprachlosigkeit, sie haben keine Kraft.“ Schon gar nicht für Lobbyarbeit in eigener Sache.

„Was müsste geschehen, um die Armut zu bekämpfen“, fragte Bausch. Wohnungen bauen, sagte Keck. Und zwar viel schneller und viel mehr. Doch die Rahmenbedingungen seien schwierig, Bauen werde immer teurer. Hinzu komme laut Ines Fischer, dass es in Reutlingen keine Belegungsrechte für Menschen am Rand der Gesellschaft gebe, in anderen Städten schon. Der OB versprach, dass der Prozentsatz der Sozialwohnungen deutlich steigen werde, gleichzeitig hob er hervor, dass in Reutlingen viele Einliegerwohnungen in Einfamilienhäusern leer stünden. „Bei uns ist Eigentum ja fast heilig.“ Eine Leerstandsabgabe, wie von Bausch in die Runde geworfen, „wäre schön, bräuchte aber eine Mehrheit im Gemeinderat“, so Keck.

Joachim Rückle hob hervor, dass viele Menschen sich gegen Monatsende kein Busticket mehr leisten könnten. „Wenn arme Menschen da Vergünstigungen erhielten, wäre das ein Signal“. Undine Zimmer fragte: „In Reutlingen gibt es keine Lobby für Arme, wäre es mit anderen Prioritäten nicht möglich, mehr gegen Armut zu tun?“ Eine weitere Forderung von ihr: „Der Zusammenhalt und das Verständnis füreinander müsste wachsen.“ Gefordert sei nicht nur die Stadt, sondern jeder Einzelne, so Rückle. Jede und jeder müsse sich fragen, „was kann ich persönlich tun, um mehr Solidarität zu zeigen“.

Die Asylpfarrerin forderte dazu auf, „ein Zeichen zu setzen, dass wir Solidarität für alle wollen“ – die Stadt könnte das als Aushängeschild nutzen“. Keck habe schon in den vergangenen Jahrzehnten „eine Fehlentwicklung in der Gesellschaft registriert – eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinwesen und immer mehr Egoismus“. Dem stimmte auch das Publikum zu, Helmut Treutlein etwa sagte: „Der Gemeinnutz muss wieder vor Mein-nutz stehen.“ Oder Sebastian Weigle, der wie Treutlein auch SPD-Gemeinderat ist: „Wie bei der Feuerwehr müssen wir dazu kommen, dass ehrenamtliches Engagement für die Gesellschaft mit zwei Stunden in der Woche völlig normal wird – nur so kommen wir aus der Ich-Bezogenheit heraus.“ Dem stimmte auch Ulrich Bausch zu: „Wir alle müssen uns fragen, was mein persönlicher Beitrag für die Gesellschaft ist.“

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