Ein kriminelles und ausbeuterisches System voller Gewalt

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Das „Reutlinger Bündnis“ hatte am Dienstagabend im Spitalhof mit Sabine Constabel und Sandra Norak zwei Frauen zu Gast, die als Sozialarbeiterin und als ehemalige Prostituierte über die Situation in deutschen Bordellen berichteten

„Die meisten Bordellbesitzer hier in Deutschland sind in die Ausbeutung der Frauen involviert“, sagte Sandra Norak am Dienstagabend, 25. Januar 2022, im Reutlinger Spitalhof. Sie muss es wissen, schließlich hat sie mehr als sechs Jahre selbst in Bordellen als Zwangsprostituierte „gearbeitet“ – wobei sie und Sabine Constabel den Begriff der „Arbeit“ oder „Sexarbeit“ im Rotlichtmilieu überhaupt nicht mögen. Mit Arbeit habe die Tätigkeit in den Bordellen nichts zu tun, „das ist legalisierte und bezahlte Vergewaltigung“, so Constabel, die als Sozialarbeiterin seit rund 30 Jahren mit Prostituierten in Stuttgart arbeitet und sich mit dem Verein „Sisters“ für den Ausstieg aus der Prostitution einsetzt.

Sandra Norak ist ein Pseudonym, das sich die junge Frau zugelegt hat. Heute ist sie Diplom-Juristin und setzt sich auch auf europäischer Ebene für die Abschaffung der Prostitution ein. Reingerutscht ins Rotlicht sei sie nach ihren eigenen Worten über die „Loverboy-Methode“ – und das bedeute, dass sie von einem Zuhälter im Internet gefunden wurde. Der habe sie umgarnt, umworben, sie trafen sich und er gaukelte ihr die große Liebe vor. „Meine Mutter war psychisch krank, ich litt unter Magersucht und sehnte mich nach der Liebe, die ich im Elternhaus nie gekriegt habe.“ Irgendwann sei sie mit dem Loverboy „zum Kaffeetrinken ins Bordell gegangen“. Die „Besuche“ dort mehrten sich, sie verloren ihre abschreckende Wirkung. „Als er dann sagte, ob ich nicht auch mal als Prostituierte arbeiten will, lehnte ich entrüstet ab“. Doch dann „kam er mit der Schuldenmasche – er sagte, er habe einen Haufen Schulden und ich könne ihm helfen, sie wieder loszuwerden“.

Zu dem Zeitpunkt sei sie von dem Mann abhängig gewesen, aus Liebe hätte sie fast alles für ihn getan. Norak wehrte sich jedoch dagegen, pubertierende Mädchen als „blöd und naiv“ darzustellen, wenn sie aus Liebe in die Prostitution abrutschen. Immerhin habe sie geglaubt, dass da endlich ein Mensch wäre, der sie um ihrer selbst willen liebt. „Die Zuhälter suchen gezielt nach Mädchen, die magersüchtig sind oder sich ritzen, die eine enorme Distanz zu sich selbst und dem eigenen Selbstwert haben“, so Norak. Denn diese Mädchen seien besonders geeignet für Ausbeutung. „Mein Zuhälter hat zu mir gesagt, Prostitution sei nichts Schlimmes, das sei doch legal – und ich dachte, ich bin völlig falsch, weil ich mich wehrte.“

Im Rotlichtmilieu hat Sandra Norak in unterschiedlichen Bordellen vor allem rumänische und bulgarische Frauen kennengelernt. Auch ein paar deutsche, aber die waren deutlich in der Minderheit. „Der Migrationsanteil in der Prostitution liegt bei über 80 Prozent“, sagte Sabine Constabel. Und die meisten würden ausgebeutet. Durch Zuhälter, durch die Bordellbetreiber, wenn sie – so ein Stuttgarter Beispiel eines recht kleinen Hauses – zwölf Zimmer zu 150 Euro pro Tag an die Prostituierten vermieten. „Der Betreiber macht einen Jahresumsatz von 657 000 Euro“, so Constabel. Das sei eine „Gelddruckmaschine“. Bei 30 Euro pro Freier müsse eine Prostituierte jeden Tag fünf Männer bedienen, „dann haben sie noch nichts zu essen, der Zuhälter will seine Wohnung bezahlt kriegen, die Familie in der Heimat will Geld sehen“.

Ungeheuerliche, grausame Zustände, die Ines Fischer als Asylpfarrerin und Mitglied im „Reutlinger Bündnis“ (das zu dem Abend eingeladen hatte) musikalisch zu Gehör brachte – mit Klaviertönen, die unter die Haut gingen. „Manches lässt sich nicht in Worte fassen“, sagte Dr. Claudia Guggemos, die zusammen mit Verena Hahn den Abend moderierte. „Wenn im Bewusstsein wäre, wie die Situation im Rotlichtmilieu, in den Bordellen tatsächlich ist, dann wäre der Widerstand dagegen viel größer“, sagte Sabine Constabel. „Da geht es um Menschenrechtsverletzungen im großen Stil, das ist ein grausamer, legalisierter Sklavenmarkt.“ Dass die Frauen in den Bordellen auf die Fragen der Polizei sagen, dass sie freiwillig dort seien, dürfe laut Sandra Norak nicht verwundern.

Denn: Die Frauen würden in subtiler Abhängigkeit gehalten, mit psychischem Druck werde gearbeitet, aber auch mit Gewalt. Die Frauen müssten das Geld an die Zuhälter abgeben und das bisschen, was übrigbleibe, schicken die Prostituierten nach Hause. „Viele von ihnen werden von ihren Brüdern, ihrem Vater oder der Mutter nach Deutschland gesandt, um Geld zu beschaffen“, so die Sozialarbeiterin. Wenn manche zurückkommen, weil sie es nicht mehr aushalten, psychisch und oder körperlich kaputt sind, werde die Schwester losgeschickt. „Andere aber kehren mit Plastiktüten voller Schmerzmittel zurück in die Bordelle.“ Viele würden laut Norak zu Alkohol oder Drogen greifen, um das Ganze überhaupt auszuhalten. Ein Sklavenmarkt der besonderen Art. „Wir brauchen ein Regelwerk, das verhindert, dass Frauen zur Ware verkommen“, so Constabel. Laut Norak handelt es sich bei dem Rotlichtmilieu in Deutschland um „ein System, das mit Kriminalität und Gewalt belastet ist“. Die große, breite Masse der Frauen in den Bordellen sei versklavt.

In den Medien werde laut Sabine Constabel das Rotlichtmilieu in rosaroten Farben dargestellt. „Aber eine Frau, die im Escort-Bereich arbeitet, muss keinem Freier für 30 Euro zur Verfügung stehen.“ Die überwiegende Mehrheit der Frauen im Rotlicht müsse aber zu elenden Bedingungen in den Bordellen anschaffen – mit Menschenwürde habe das nichts zu tun, waren sich die Frauen auf dem Podium im Spitalhof einig. Das Nordische Modell fordert ein Sexkaufverbot, bei dem nicht die Prostituierten kriminalisiert werden, sondern die Freier. Ausstiegshilfen für die bis zu 400 000 Prostituierten in Deutschland seien dringend notwendig. „Eine Säule des Nordischen Modells ist aber auch die Erziehung zur sexuellen Gleichberechtigung“, betonte Sabine Constabel. Wenn Frauen wie eine Ware gekauft und sie dann auch so behandelt werden, wie eine Puppe, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Frauen – dann sei doch einiges faul hier im Land. „Die Profiteure der Prostitution, also die Bordellbetreiber und die Zuhälter, müssen endlich kriminalisiert werden“, forderten die Frauen auf dem Podium einhellig.

Von vielen staatlich finanzierten Beratungsstellen halten die Frauen von Sisters e.V. im Übrigen nicht besonders viel: „Die helfen zwar Frauen in der Prostitution, beraten aber nicht zum Ausstieg, zeigen keine Alternativen auf“, sagte Sabine Constabel. Erst langsam verändere sich da was. Ganz langsam. „Ich hoffe, dass die Beraterinnen auch lernen.“ Dieses Elend, in dem die allermeisten Prostituierten leben müssen, „kann man nicht mehr länger ignorieren“, sagte Sandra Norak. Und dennoch würden jeden einzelnen Tag im Jahr, 1,2 Millionen Männer in Deutschland zu Prostituierten gehen. Ohne jedes Unrechtsbewusstsein. „Die Gleichstellung der Geschlechter funktioniert nicht, solange Männer Frauen kaufen“, betonte die Sozialarbeiterin.

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