Die Themen sind heute so aktuell wie vor 100 Jahren

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Jubiläumsfeier zum runden Geburtstag der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt (AWO) am Mittwochabend im franz.K mit zahlreichen Gästen und musikalischer Unterhaltung

„Wohnen ist ein Menschenrecht.“ Dieser Spruch zierte nicht nur ein Plakat der AWO neben der Bühne im franz.K an diesem Jubiläumsabend zum 100jährigen Bestehen der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt. Auch Oberbürgermeister Thomas Keck hob in seinem Grußwort hervor, dass jeder Mensch in Deutschland das Recht auf eine Wohnung hat. Oder zumindest haben sollte. „Für alle sollte das einlösbar sein, doch auch in Reutlingen „ist ein Anstieg der Wohnungslosigkeit festzustellen“, so Keck. Riesig groß war die Wohnungsnot ebenso wie die Massenverelendung nach den Worten von Kathrin Sonnenholzner (per Live-Zuschaltung aus München) nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Deutschland.

Damals wurde im Jahr 1919 die Arbeiterwohlfahrt von Arbeitern gegründet, um sich selbst zu helfen und „um die stigmatisierende Armenpflege des Kaisers abzulösen“, so Sonnenholzner als Vorsitzende des bundesweiten AWO-Präsidiums. Nur zwei Jahre später wurde auch in Reutlingen ein Ableger der AWO von Elisabeth Zundel aus der Taufe gehoben, wie Manuela Jess als Kreissozialamts-Leiterin betonte. Auch heute noch laute nach den Worten der Landrats-Vertreterin das Motto der AWO „Nicht Almosen verteilen, sondern Selbstbestimmung ermöglichen“. Aber: „Leider sind die Themen der Arbeiterwohlfahrt heute nicht weniger aktuell als vor 100 Jahren“, so Jess.

Dem stimmte auch Sonnenholzner zu: Dass 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren – „und damit jedes fünfte Kind in Deutschland“ – in Armut leben müssen, sei ein Skandal. Ebenso, dass „Wohnen für Durchschnittsverdiener nicht mehr bezahlbar ist“, so die AWO-Präsidiumsvorsitzende. „Heute ist die AWO Anwalt für diejenigen, die sich nicht selbst Gehör verschaffen können.“ Als Vereinsvorsitzender der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt betonte Sebastian Weigle, „dass die AWO auch in den vergangenen beiden Corona-Jahren da war, auch in den schwierigsten Phasen“. Zudem hat die AWO in der Stadt während der Pandemie eine Kindertagesstätte eröffnet – ein wagemutiges Unterfangen? „Ja, das war schon eine verrückte Idee, aber sie ist gelungen“, betonte in einer Podiumsrunde Ayisha Rothacher. Eigentlich habe sie „nur“ einen Kitaplatz für ihr eigenes Kind gesucht, wurde aber kurz darauf zur Leiterin der nagelneuen Einrichtung.

Musikalisch und mit amüsanter Kurzprosa gekonnt umrahmt wurde das Festprogramm am Mittwochabend im franz.K von Heiner Kondschak und den Melikas. Auf der Bühne nahmen kurz vor dem Büffet neben Rothacher „Urgesteine“ der AWO Platz: Gisela Steinhilber etwa, die 32 Jahre lang die Geschicke der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt gelenkt und geleitet hatte. „Wir waren immer führend in der Wohnungsnotfallhilfe, weil wir stets sehr gute und engagierte Mitarbeiter hatten.“ Heike Hein, die nun auch schon seit fast 20 Jahren bei der Reutlinger AWO als Fachberaterin arbeitet, betonte: „Unsere Klientel hat sich im Lauf der Jahre stark verändert.“

Das beobachtete auch Björn Huber, der sich seit mehr als 20 Jahren in den Nachtdienst der Notunterkunft einbringt: „Menschen auf der Durchreise gibt es heute gar nicht mehr, die Arbeit hat sich dadurch komplett verändert“, betonte Huber. „Früher waren wir mehr Seelsorger, heute machen wir auch Schuldnerberatung und begegnen immer mehr psychischen Problemen.“ Nils Opitz-Leifheit antwortete als Antwort auf die Frage nach den Wünschen für die Zukunft der AWO: „Es ist eine riesige Herausforderung, immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben, genau das wünsche ich der Arbeiterwohlfahrt“, betonte der Bezirksvorsitzende der AWO Württemberg.

Die Wünsche von Björn Huber fielen etwas bescheidener aus: Neue Matratzen, Tische, Stühle, Schränke für die Notunterkunft. „Damit wir den Wohnungslosen ein Stück Zuhause bieten können“, so Huber. Gisela Steinhilber sagte: „Ich wünsche der AWO für die Zukunft, dass das große Netzwerk hält und das riesengroße Engagement der Mitarbeiterschar erhalten bleibt.“ Heike Hein betonte: „Ich wünsche mir Wohnungen für alle und – ich bin mir sicher, dass wir auf der Höhe der Zeit bleiben.“ Schön sei es aber, „dass in Reutlingen unsere Ideen gehört werden“, so Hein.

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