„Dank für unerträgliche Erinnerungen“

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Rund 200 Menschen gedachten am 9. November in der Reutlinger Marienkirche der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus

 „Ich kann die Bücher über den Holocaust nicht lesen und die Filme darüber nicht ansehen“, sagte Prof. German Nemirovski von der Jüdischen Gemeinde am Dienstagabend während der Gedenkstunde in der Reutlinger Marienkirche an die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Nemirovski kann Filme und Bücher nicht ansehen, „weil ich sonst anfange zu zittern“. Denn: Seine ganze Familie wurde durch den Holocaust geprägt, entweder sind die Angehörigen geflohen, verschleppt oder ermordet worden. Braucht es diese Bücher und Filme überhaupt, sollte man die nicht alle verbieten, fragte der Professor. „Doch dann höre ich von Halle, von Hagen, Berlin.“ Und dann wisse er, dass die Erinnerungen bleiben müssten, „wie Impfungen gegen eine schreckliche Krankheit“, so Nemirovski.

„Wir schulden den Toten und den Lebenden das Erinnern – ich danke für die Erinnerungen, die für mich unerträglich sind“, sagte der Vertreter der Reutlinger Vertreter der Jüdischen Gemeinde. Rund 200 Reutlingerinnen und Reutlinger sind am Dienstagabend zu der Gedenkstunde in die Marienkirche gekommen. Dort sahen sie einen sehr nachdenklich stimmenden „bebilderten Gang durch die Stadt“, der von Schülerinnen der Laura-Schradin-Schule aufgeführt wurde und auf den „Verlust des jüdischen Lebens in Reutlingen“ wies.

Die Jugendlichen berichteten von Juden, die einst in Reutlingen Geschäfte hatten, als Lehrer am List-Gymnasium arbeiteten oder ganz einfach in der Stadt lebten. Heinrich Rosenrauch etwa, der in der unteren Wilhelmstraße hochwertige Schuhe verkaufte. Er wurde verhaftet, alle seine Schuhe in der Reichspogromnacht auf die Straße geworfen. Rosenrauch wurde nach Dachau verschleppt, dann kam er nach Riga – „und er überlebte wie durch ein Wunder“, berichtete eine der Schülerinnen. Mindestens zwölf jüdische Reutlinger sind zwischen 1935 und 1938 in die USA ausgewandert. Andere versuchten über den Reutlinger Bahnhof als Startstation nach Brasilien oder in ein anderes Land zu kommen. Doch dann wurde der Bahnhof nicht mehr nur zum Symbol für die Flucht in ein anderes, neues Leben, sondern auch zum Startpunkt für den Weg in den Tod für viele Juden aus der Stadt.

„Wir wollen mit dieser Gedenkstunde heute ein Zeichen setzen gegen jeglichen Antisemitismus“, hatte Pfarrer Martin Burgenmeister zu Beginn der Veranstaltung in der Marienkirche betont. 2021 sei ein besonderes Jahr, weil vor 1700 Jahren zum ersten Mal die jüdische Kultur in Deutschland urkundlich erwähnt wurde, betonte Burgenmeister. „Ich hoffe sehr, dass es mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass die jüdische Kultur zu uns gehört.“ Norbert Pellens betonte, dass der Teufel nicht nur im Detail liege, sondern noch viel mehr im Vergleich: „Wenn ich mich selber für besser, normaler, menschlicher halte als andere, führt das zu Bosheit, Ablehnung, Diskriminierung“, führte der Leiter der Laura-Schradin-Schule aus. „Dann stellen wir andere außerhalb der Norm – und die Ursache für die Reichspogromnacht liegt im Vergleich.“

Dass Juden, Sinti und Roma, behinderte Menschen weniger wert oder gar verabscheuungswürdig sein sollten, habe zu dem damaligen Wahn geführt, dass Nationalsozialisten das Recht hätten, „unwertes Leben“ vernichten zu können. Als Schulleiter sei es ihm überaus wichtig, dass diese Form des Vergleichs nicht nur damals tödlich endete, sondern auch heute noch Gift in die Schule, in die gesamte Gesellschaft bringe. „Vielfalt soll nicht verabscheut werden“, forderte Pellens. „Sich und andere zu lieben, bricht den Vergleich auf“, sagte der Schulleiter, bevor Isabel Silva Montero sehr gekonnt Ed Sheeran interpretierte.

Nach der Gedenkstunde bildeten die rund 200 Personen eine Prozession von der Marienkirche über den Marktplatz zu der Gedenktafel an die Opfer des Holocaust gegenüber der Stadtbibliothek, an der Mauer des Heimatmuseumsgartens. Dort legten die bewegten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Nelken und Kerzen ab und Prof. Nemirovski sprach ein jüdisches Gebet. Kurz darauf endete 83 Jahre nach der Reichspogromnacht, die auch in Reutlingen ihre Opfer gefordert hatte, das Gedenken an eine Untat, die niemals vergessen werden darf. Auch, wenn es unendlich schmerzt, wie Nemirovski betont hatte.

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