Die Kunst der Nächstenliebe

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Am Freitagabend, 1. Oktober, wurde eine Foto-Ausstellung über Menschen mit Behinderung unter dem Titel „Die Kunst der Nächstenliebe“ in der Münsinger Zehntscheuer feierlich eröffnet

Berauschend war der Auftritt der Beschäftigten der Werkstatt an der Schanz am Freitagabend zu Beginn der Ausstellungseröffnung in der Münsinger Zehntscheuer: Sieben Personen machten mit ihren Percussion-Instrumenten zusammen einer E-Gitarre Musik – und die Freude daran war den Musikern ins Gesicht geschrieben. Die Fotoausstellung, die nun im zweiten Obergeschoss der Münsinger Zehntscheuer zu sehen ist, bildet Ähnliches ab: Freude, aber auch Leid, Nachdenklichkeit, Trauer, Begeisterung. Auf insgesamt 42 Fotografien werden behinderte Menschen in ihrem Lebensumfeld gezeigt. Initiiert und zusammengestellt hat die Ausstellung Dr. Ursula Röper mit Fotos von behinderten Menschen aus den 1970er und 80er Jahren. Gefunden hat sie die Bilder, als sie „vor zwölf Jahren über den Zustand der Diakonie in Ostdeutschland“ recherchiert hatte, wie sie selbst am Freitagabend ausführte. Ergänzt wurde die Fotoausstellung nachträglich mit Bildern von behinderten Menschen aus Westdeutschland aus derselben Zeit.

(von links: Frank Wößner, Dr. Ursula Röper und Markus Mörike)

Behinderte wollen Teilhabe, Toleranz und Zuhören, sie wollen auf Augenhöhe gesehen werden“, betonte die Religionswissenschaftlerin in der Zehntscheuer. „Teilhabe und Gleichberechtigung gehören zusammen – der Alltag jedoch sieht auch heute noch anders aus“, so Röper, die zu der Ausstellungseröffnung aus Berlin angereist war. Dass der Alltag von behinderten Menschen oft mit Teilhabe wenig zu tun hat, verdeutlichten auch Hanna Woop und Uwe Schulz im Interview mit Markus Mörike als Leiter des Samariterstifts Grafeneck.

Woop wie auch Schulz sehen sich „selbst nicht als behindert“, beide bräuchten aber „Hilfe in ein paar Dingen“. Schulz ist gelernter Steinmetz, arbeitet momentan jedoch in der Werkstatt an der Schanz. „Im Moment passt das, wenn ich stabiler bin, will ich aber noch eine Ausbildung machen.“ Hanna Woop fühlt sich in der Landwirtschaft in Grafeneck wohl, der Umgang mit all den Tieren bereitet ihr viel Freude. Aber: Als behinderte Menschen „werden wir oft nicht nach unserer Meinung gefragt“, bemängelte die 22-Jährige. Mörike hatte vor dem Interview die Frage in den Raum gestellt, ob der behinderte Mensch immer noch das unbekannte Wesen ist. „Wenn diese Menschen aber Gesicht und Namen bekommen, werden sie zur Persönlichkeit“, so Mörike.

Ähnlich ergeht es den Betrachtern der Foto-Ausstellung – die abgebildeten Menschen zeigen eine Vielfalt an Emotionen, die alle Betrachter nachempfinden können. Weil jeder Mensch diese Emotionen kennt – die Behinderung spielt dann also keinerlei Rolle mehr. „Betrachter und die abgebildeten Personen können sich auf Augenhöhe begegnen“, so Ursula Röper. Das Besondere an den Fotos sei, dass Behinderte dort nicht „inszeniert und damit dem Voyeurismus, der Ab- und Ausgrenzung preisgegeben wurden“, so die Religionswissenschaftlerin. „Im Mittelpunkt jedes Bildes steht das Porträt – und die berühren uns, weil wir Empfindlichkeiten sehen, die jeder von uns kennt.“ Die Fotoschau ist laut Röper „zeitlos und aktuell“ und wurde gleichzeitig mit einem umfangreichen Begleitprogramm versehen (der GEA berichtete bereits).

Frank Wößner ging am Freitagabend in seinem Beitrag auf den Titel der Ausstellung „Die Kunst der Nächstenliebe“ ein: „Kunst und Nächstenliebe ist ein Begriffspaar, das fasziniert“, betonte der Vorstandsvorsitzende der Samariterstiftung. „Wenn der fremde Mensch zum Mitmenschen wird, dann ist das eine der tiefsten Möglichkeiten des Menschseins.“ Als er die Fotos der Ausstellung betrachtet hatte, „haben die Bilder zu mir gesprochen, ich habe den abgebildeten Menschen ins Angesicht gesehen, ich bin berührt worden – und deshalb sind das auch zeitlose Bilder, die Antworten wollen“, so Wößner. „Die Porträts haben die Kraft, in uns Veränderungen, neue Schwingungen freizusetzen.“ Frank Wößner forderte dazu auf: „Lassen Sie sich berühren, fühlen Sie sich ein in die Bilder – das Leben ist bunt, Menschen gehören dazu, immer und überall.“

INFO:

Hintergrund der Ausstellung

Die Fotos unter dem Titel „Die Kunst der Nächstenliebe“ ist nach den Worten der Initiatorin und Kuratorin Dr. Ursula Röper „keine historische Fotodokumentation und sie bedient keine Stereotypen“. Bei der Fotoschau handle es sich um ein Projekt, das behinderte Menschen zeigt, die in ihren Lebensbereichen wie etwa Wohnen, Freundschaft und Nähe, Beweglichkeit, Lernen, Arbeit, Feiern und Genießen abgebildet wurden. Entstanden ist die Ausstellung in Kooperation mit der Samariterstiftung, der Stiftung Zeit für Menschen und der Diakonie Mitteldeutschland. Bis zum 17. November wird die Wanderausstellung noch in Münsingen zu sehen sein.

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