Fast ein realer Kriminalfall

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Gestern Abend – wir waren gerade von einer weiteren Küstenwanderung unterhalb von Concarneau zurück und hatten soeben gegessen – da näherte sich von der Straßenseite her ein ungefähr 30jähriger Mann unserer Terrasse.

Er redete wie wild auf uns ein, hielt uns einen Autoschlüssel und sein Handy entgegen. Durch konsequentes Nachfragen (mit unseren begrenzten Mitteln) versuchten wir herauszukriegen, was der Mann denn von uns wollte. Immer wieder sprach er von „ma voiture“, von „perdu“ und dass für sein Smartphone „charger“ erforderlich sei. Beim Strom konnten wir abhelfen, seine Auto-Story hörte sich allerdings ziemlich wirr an. Er selbst habe sein Auto irgendwo abgestellt, er wisse aber nicht mehr auf welchem Parkplatz. Es könne auch sein, dass ihm das Fahrzeug gestohlen wurde. Der junge Mann fragte noch nach einem Schluck Wasser, woraus im Lauf der folgenden Zeit rund ein Liter wurde. Bine fragte nach, ob er Hunger habe – was er bejahte. So wurde er mit einer Portion Spaghetti inklusive extrem leckerer Sauce verköstigt, während sein Handy sich langsam, sehr langsam auflud. Bei knapp 10 Prozent (und beendetem Mahl) versuchte er, Bekannte, Verwandte, Kollegen anzurufen. Allerdings ohne wirklichen Erfolg. Kaum hatte er sich jeweils gemeldet – „oui, c’est moi, Karim“ – waren die Gespräche auch sofort immer wieder beendet. Wir verstanden nicht, warum.

Danach blätterte er stetig in seiner Anruferliste, wischte rauf und runter, wie ein Eichhörnchen, das für den Winter Eicheln polieren wollte. Unser Besucher jedoch tippte irgendwann auf irgendeinen Namen, ließ die Nummer wählen – es erfolgte eine kurze Meldung, wie etwa „oui, papa, c’est moi“, und schon war das Gespräch wieder vorbei. Nach mehr als einer Stunde wurde uns ein wenig mulmig zumute, weil sich keinerlei Lösung abzeichnete. Und weil der junge Mann keinerlei Anstalten machte, sich wieder aus unserer winzigen Küchen-Wohnzeile zu entfernen. Bine hielt sich die ganze Zeit auf der Terrasse auf, weil sie befürchtete, dass der gute Karim womöglich Corona-infiziert sein könnte. Und wir in unserer kleinen Unterkunft nicht wirklich auf Abstand gehen könnten. Auf Nachfrage, bekräftigte er mehrfach, dass er „vacciné“, also geimpft sei. Sogar „double“. Bei den „Unterhaltungen“ mit ihm, stellte sich heraus, dass er einen Sprachfehler hatte, dass er stotterte. Das machte es für unsere stark begrenzten Französisch-Kenntnisse nicht unbedingt einfacher.

Irgendwann sagte Karim, er wolle sich in Trévignon nach einem Hotel-Zimmer umsehen. Aha, dachten wir. Ich fragte ihn nach seinem Beruf, recht erfreut antwortete er, dass er „la plonge“ mache. Wir dachten: Plongé ist doch tauchen, ist er also Tauchlehrer? Allerdings hatte er angefügt, dass er mit „la vaisselle“, also mit Geschirr zu tun habe. Für mich stand dann fest, dass er Tellerwäscher wäre, was sich im Online-Wörterbuch dann auch bestätigte. So lernten wir unseren ersten Tellerwäscher kennen – ob er es irgendwann zum Millionär bringen würde? Irgendwann fragte Karim uns nach der Telefonnummer der Polizei. Ausgerechnet uns. Wir googelten, nannten ihm die Information, allerdings ohne den gewünschten Erfolg, dass er auch mit Polizisten geredet hätte. Bei uns kamen langsam Zweifel auf … Ist das vielleicht so eine raffinierte Methode, um uns unser schwindendes Vertrauen wieder zu erschleichen, dachten wir. Nach rund 1,5 Stunden vergeblichen Bemühens von Karim – es war mittlerweile stockdunkel geworden – verkündete er, dass in Trévignons Hotels kein Zimmer mehr frei sei. Ich hatte zwar nicht mitgekriegt, dass er mit einem Hotel telefoniert hatte, konnte ihm aber auch nichts Gegenteiliges nachweisen. Bei der Polizei, meinte er, sei es so, wie mit den anderen Gesprächen gelaufen – Verbindung zustande gekommen, gleich wieder gekappt. Wir schlugen ihm vor, dass er doch bei der Crêperie in unserer Straße (tout droit – immer geradeaus) vielleicht eher Hilfe finden könnte, als bei uns, die wir ihm doch rein sprachlich nicht wirklich folgen und noch weniger helfen konnten. Er meinte, „oui, oui, bonne idée“ – das war’s dann aber auch mit der Crêperie. Schließlich kam ich auf die Idee, dass er doch mein Telefon benutzen könnte, wenn seins nicht richtig funktionierte. Er meinte, dass dieser Gedanke doch geradezu genial sei, entschuldigte sich, dass er nicht selbst draufgekommen war. Er nahm mein Telefon und führte tatsächlich ein längeres Gespräch – von dem wir nicht wirklich etwas verstanden. Allerdings meinte er danach freudestrahlend, dass ihn jemand abholen würde. „Dix minutes“, sagte er. Aus den zehn Minuten wurden dann 20, aber immerhin kam tatsächlich jemand. Bine hatte verstanden, dass die Mutter eines Kollegen ihn holen käme. Wir wünschten ihm alles Gute, sofern wir sprachlich dazu in der Lage waren. Und wir waren tatsächlich froh, dass er wieder weg war.

„Vielleicht ist das ja so eine neue Art des Enkeltricks“, hatte Bine zwischenzeitlich gemutmaßt. Womöglich eine französische Abart. Wir nutzten also die Zeit, als er gerade mal vor dem Haus war, um sich die hiesige Adresse – die an der Außenwand angebracht ist – zu notieren, Wir entfernten sämtliche Wertsachen aus einem 1,5 Meter-Umkreis um sein ladendes Telefon herum. Man weiß ja nie, dachten wir. Wen hätten wir hier informieren können, wenn Karim uns tatsächlich überfallen wollte und nun nur auf seine Komplizen wartete. Aber, mal ganz ehrlich: Hätte ein Dieb sich zwei Stunden bei potenziellen Opfern aufgehalten, solch eine abstruse Geschichte erfunden, um ein deutsches Urlauberpaar auszurauben? Wohl kaum. Obwohl … Wer weiß. Und deshalb trotzdem: Puh. Wir waren froh und erleichtert, dass wir Commissaire Dupin nicht erneut bemühen mussten. Auf die deutschen Filmbetreuungswagen, die wir vor kurzem in Concarneau gesehen hatten, trafen wir im Übrigen vorgestern erneut in einem kleinen Ort zwischen Trégunc und Pont-Aven. Ich bin überzeugt, dass die gerade eine neue Folge der Dupin-Serie drehen. Wir werden sehen. Vielleicht spielen wir – ganz unbewusst – ja auch mit. Weil wir zufällig in das Feld der Kamera gelaufen sind.

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