Von Schmetterlingen, Mäusen und Ameisen

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Die halbe Nacht bin ich wach gelegen, weil der Juckreiz mich plagte. Als der schließlich unter der Dusche nachließ, ich gecremt und gesalbt war, fühlte ich mich besser – und realisierte: Um diese Uhrzeit, kurz nach halb 9, waren schon unglaublich viele kleine Fischerboote auf dem Meer. Dazu saßen Angler auf den Felsen unterhalb unserer Terrasse und sogar Badende waren schon im Meer unterwegs.

Und das, obwohl die Sonne sich noch nicht blicken ließ und es noch ganz schön frisch war. Für mich stellte sich die Frage: Ist die Welt eine ganz andere, wenn man früh aufsteht? Offensichtlich scheint das so zu sein. Dass schon so viele Menschen um diese Uhrzeit wach und aktiv sein können – für mich nur schwer nachvollziehbar. Während ich unter der Dusche stand, war Bine schon zur Boulangerie gefahren. Zum Frühstück saßen wir auf der Terrasse, erfreuten uns einmal mehr an dem gigantischen Ausblick, haben Baguette, Croissant und Espresso genossen. Wie schön kann doch das Leben sein. Zum Frühstück lief unser Lieblingssender, SWR3. Ich fragte mich, ob das eigentlich pervers ist, in der Bretagne deutsches Radio zu hören? Und ob das vielleicht so ähnlich ist, wie Schnitzel mit Pommes in Spanien zu essen? Über die Antwort muss ich noch mal nachdenken.

Heute haben wir von dem Hafenort Bénodet eine Bootsfahrt den Fluss Odet hinauf unternommen. Kurz vor Quimper, einer größeren Stadt im Département Finistère, drehte das Ausfahrtschiff um und kehrte zurück. Der kleinere Bruder von Quimper findet sich im Übrigen gar nicht so weit entfernt, der heißt Quimperlé. Klar dürfte sein, dass der Ort von Schwaben gegründet wurde. Wie sonst sollte dieser Name zustande gekommen sein? Bevor wir mit dem Auto nach Bénodet losgefahren sind, hatte ich zufällig eine Bewertung der Schiffsfahrt gelesen – kann man ja heute alles machen. Bevor man ein Hotel bucht, ein Restaurant besucht, selbst einen Supermarkt oder eine Autowerkstatt, einen neuen Zahnarzt … Bewertung angucken. Und dann denken: So was sollte man eigentlich nicht lesen. Der Mensch, der die Flussfahrt mitgemacht hatte, schrieb: Langweilig, nur Wald auf beiden Seiten, ab und zu ein Schloss, für 28 Euro viel zu teuer. Bine selbst aber hatte die Fahrt vor vielen Jahren auch schon einmal mitgemacht und fand sie sehr schön. „Das ist doch das, was zählt“, sagte ich. Und tatsächlich führte der Fluss uns durch eine wunderschöne Gegend mit ganz viel Wald an der Uferlandschaft – und auch mit zahlreichen Schlössern, Schlösschen und Villen, die immer mal wieder völlig verblüffend rechts und links des Odet auftauchten. Bine sagte zu der Fahrt: „Wenn wir nicht schon so entspannt wären, könnten wir uns hier die pure Entschleunigung holen.“ Ja. Sie hatte recht. Eine herrliche Gegend. Und die Bootsfahrt lud wirklich zum Entschleunigen ein. Wenn man sich drauf einließ. Natürlich waren die Eindrücke keine spektakulären Highlights im Achterbahnfahrtmodus, sondern „nur“ … schöne Landschaft ruhig und gemächlich auf einem Schiff erlebt.

Schade war allerdings, dass wir den Ausführungen der Moderatorin so gut wie gar nicht folgen konnten. Ich verstand so gut wie gar nichts, Bine ein wenig mehr. „Wäre sicher interessant gewesen, was die Frau erzählt hat“, war unser beider Fazit. Tja. Egal. Schließlich sind wir hier in Frankreich. Da kann man ja wohl kaum erwarten, dass solche Vorträge auf Deutsch … Wer das erwartet, der isst wahrscheinlich in Spanien auch Schnitzel. Oder hört in der Bretagne SWR3 …

Gleich zu Beginn der Bootsfahrt hatten wir ein Schild an einer Wand des Schiffes entdeckt: „Brassières Adultes 40“, stand dort drauf. Darüber waren Fächer angebracht, die man durch Drehen eines Knopfes wohl öffnen konnte. Bine schaute in ihrem Google-Übersetzer nach, was sich hinter „brassières“ verstecken könnte. „Büstenhalter“, stand dort. „Was“, sagte ich. „Das kann ja wohl kaum sein, oder?“ „Doch, schau selbst“, sagte sie und reichte mir ihr Smartphone. Tatsächlich. BH stand dort. „Aber BHs für Erwachsene auf einem Personenschiff“, fragte ich ungläubig. „Dann muss es doch auch BHs für Kinder geben, oder nicht?“ Und überhaupt: Wurde da kein Unterschied zwischen Frauen und Männern gemacht? Und was sollten Männer mit BHs? Und was sollten die Büstenhalter auf einem Schiff bewirken? Als ich später in einem richtigen Online-Wörterbuch nachschaute fand ich weitere Bedeutungen von „brassières“: Hemdchen, Babyjäckchen, BH und tatsächlich auch … Schwimmwesten. Hatte ich doch gleich vermutet. Aber wer weiß das schon so genau, bei den Franzosen. Vielleicht eine Überproduktion in dem einen Bereich, wird ausgeglichen in einem anderen? Wenn zu viele Büstenhalter in den Fabriken produziert werden, nehmen Personenschiffe die günstig ab, um sie im Notfall … zu was zu gebrauchen? Beim Fallen ins Wasser über den Kopf zu ziehen? Einleuchtend schien das nicht zu sein.

Zum Abschluss der Fahrt auf dem Odet benutzte die Moderatorin die Worte „Chanson“ und „breton“. Ich verstand den Zusammenhang nicht, sagte noch zu Bine, ob die Frau jetzt hier singen wolle, da legte sie auch schon los: „Tri martolod“, sang sie, was laut Bine „drei Matrosen“ heißt. Hut ab, dachte ich. Sich nicht nur vor die Touristen hinstellen und Geschichten über den Odet, die Schlösser und noch viel mehr zu erzählen, sondern auch noch ein bretonisches Volkslied zu schmettern – chapeau. Auf der Auto-Rückfahrt machten wir bestens gelaunt Halt in Forêt Fouesnant, einem netten kleinen Örtchen zwischen Trégunc und Bénodet. Wir wollten eigentlich Crêpes essen, hatten außer dem Frühstück und wenigen Keksen nichts gehabt. Doch die zwei Crêperien im Ort waren um 16 Uhr beide geschlossen. Sehr schade, wir hatten echt Hunger. Gezwungenermaßen fuhren wir weiter und haben beschlossen, einmal mehr die Reste vergangener Mahlzeiten in unserem Häuschen zu verwerten.

Gerade waren wir zurückgekehrt, da stand plötzlich unsere Hausvermieterin mit ihren beiden kleinen Töchtern vor der Tür. Sie brachte neue Bettwäsche und Handtücher, fragte uns, wie es uns hier gefällt. Und wir waren mal wieder ganz schnell mit unserem Französisch am Ende. Wie schade. Wir konnten uns behelfen, weil die Frau auch Englisch sprach. Aber dennoch. Blöd. Die Vermieterin war gerade gegangen, da entdeckten wir auf dem Küchenboden jede Menge Ameisen. Unter dem Küchenherd krochen sie zu Dutzenden hervor, ich hielt mit dem Staubsauger dagegen. Doch es kamen immer weitere. Nervig. Vor zwei Jahren hatten wir Mäuse in der Ferienwohnung in Plomodiern, jetzt Ameisen in Trévignon. Abwechslung muss ja sein. Gerne hätten wir auf die neuerliche Invasion verzichtet und überlegten. Bine meinte: Backpulver hilft. Die Ameisen fressen das und platzen dann. Ob uns da der Tierschutz auf den Pelz rücken würde? Aber wir könnten im Supermarkt auch gucken, ob wir was anderes gegen Ameisen finden. „Bei uns gibt’s so Dosen, die locken die Ameisen an und dann …“ Ich sagte, ich fahre. Eine gute dreiviertel Stunde hatten wir noch Zeit, bevor der InterMarché in Nevez zumachte. Das war der Supermarkt, in dem wir zuletzt waren. In dem Ort hatten wir uns dreimal verfahren. So war es auch diesmal wieder. Ich fuhr in den Ort hinein und wurde durch die Einbahnstraßenregelungen kreuz und quer geschickt, so dass ich schnell die Orientierung verloren hatte. „Da war doch ein Wohngebiet, durch das wir beim letzten Mal …“, dachte ich und verlor mich völlig in einem Gewirr aus Sackgassen, Einbahnstraßen und einfach aufhörenden Fahrbahnen. Aber: Den InterMarché habe ich schlussendlich doch noch rechtzeitig gefunden. Vor dem Markt standen fünf dicke fette Motorräder, Harleys. Zwei Typen mit Rocker-Kutte parlierten neben ihren Bikes und gaben sich extrem cool. Zwei Frauen mit den denselben Jacken und dem Aufdruck „Lugdunum France“ oder so ähnlich gingen einkaufen. Die Rollenverteilung war offensichtlich eindeutig. Und alle sahen so aus, als wären sie ungefähr um die 60 Jahre alt. Wo traf ich die beiden Frauen im Supermarkt wieder? Vor dem Weinregal. „Aha“, dachte ich. Die haben ähnliche Probleme wie wir.

Das Ameisenvertilgungsmittel (Anti-Fourmis) hatte ich schnell gefunden und versuchte anschließend auf direktem Weg wieder aus Nevez herauszukommen. Vergeblich. Erneut fiel ich auf die Beschilderung herein, verpasste einmal mehr die Abfahrt nach St. Philibert. Also noch eine Extrarunde gedreht. Als ich wieder in Trévignon ankam, verkündete Bine: „Die Ameisen sind wieder verschwunden.“ Na toll. Die ganze Ausfahrt also umsonst? Gegen später wagten sich jedoch wieder einige aus der Ritze unter dem Herd hervor. „Seltsame Ameisen“, sagte Bine. Mal sehen, wie viele da noch kommen. Denn das Ameisenmittel ist mittlerweile aufgestellt. Immerhin: Wir haben gelernt, was Ameisen auf französisch heißt: fourmis. Vor zwei Jahren fanden wir heraus, dass französische Mäuse „sourris“ genannt werden wollen. Die Suche nach Mäusefallen wäre hier nicht so aufwendig und mit x Baumarktbesuchen verbunden gewesen: In jedem Supermarkt haben wir bislang Mäusefallen gesehen. Brauchen wir ja dieses Mal nicht. Dafür Ameisen.

Als wir gestern unser Abendessen vertilgten, das Bine uns während meiner Abwesenheit bereitet hatte, kamen wir auf ganz andere Themen zu sprechen. „Wo schlafen eigentlich Schmetterlinge“, fragte meine Gattin angesichts dieser Unmenge an Schmetterlingen direkt vor unserer Terrasse. „Gute Frage“, sagte ich, ohne eine passende Antwort liefern zu können.

Aber ich äußerte eine nicht ernst gemeinte Vermutung: „Vielleicht schlafen die ja wie die Mauersegler im Flug.“ Bine meinte, dass sie das nicht glaube, sagte aber plötzlich: „XiGong.“ Ich konnte mit dieser Bemerkung nicht viel anfangen, dachte sie rede von der chinesischen Möbelstellkunst. Was aber sollten Schmetterlinge damit anfangen? Deshalb gingen meine Gedanken eher in die Richtung der japanischen Papierfaltkunst. „Dann doch wohl eher Ikebana.“ Bine sagte: „Ikebana ist doch die Blumensteckkunst.“ Ich erläuterte, dass sich Schmetterlinge – wenn überhaupt japanisch – dann doch eher papierkunstmäßig zusammenfalten und dann irgendwo zum Schlafen ablegen. Und mit XiGong eher weniger anfangen könnten. Wir schauten im Netz nach, fanden heraus, dass die Papierfaltkunst nicht Ikebana, sondern Origami („so ähnlich wie Oregano“) heißt. Und erst dann stellte sich heraus: Bine hatte während unseres „Gesprächs“ ein paar Leuten am Strand zugesehen, die gerade XiGong-Übungen gemacht hatten … und ich war davon ausgegangen, sie meinte, die Schmetterlinge würden XiGong machen, um schlafen zu können … so ein Quatsch. Dann doch eher Ikebana, nein, halt, Oregano. Oder wie hieß das mit dem Papier noch mal auf Japanisch?

Nach der Bootsfahrt auf dem Odet sind wir wohl so tiefenentspannt, dass wir unsere Gedanken manchmal nicht mehr so richtig auf die Reihe bekommen. Wie schön. Das ist wahre Erholung. Gedanken verfolgen, die wirklich überhaupt keine Rolle spielen. Und im Übrigen habe ich am vergangenen Sonntag oder Montag mein Zeitgefühl völlig verloren. Am Donnerstag fragte ich Bine, was für ein Tag denn heute sei. Als sie antwortete, war ich völlig perplex. „Das kann doch nicht sein, dass die Zeit schon wieder so gerast ist“, sagte ich. „Dann haben wir ja nur noch gut eine Woche hier“, rief ich empört. Und ganz nebenbei: Wo schlafen Schmetterlinge jetzt eigentlich?

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