High-Speed-Ent-Spannung

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Jetzt entspann dich doch endlich mal. Denke ich mir gerade so. Ich bin doch im Urlaub. Und dann muss man doch entspannen. Sagen immer alle.

Ich hatte mich doch auch so auf die Entspannung gefreut. Seit zwei Jahren ging sie mir fast völlig ab, hat mir gefehlt, die letzten Wochen dachte ich an fast nichts anderes mehr. „Ich muss hier raus, weg, endlich Urlaub“, waren meine alles beherrschenden Gedanken. Und dann ging’s ja auch tatsächlich los am 3. September. Jetzt aber, dachte ich. Jetzt also. Aber hallo. Jetzt mit Volldampf. Sozusagen High-speed-recreation. Aber nicht mit zusammengebissenen Zähnen. Da muss man schon drauf achten. Heute zum Beispiel saßen wir den ganzen Tag hier auf der Terrasse. Ganz bewusst entschleunigt haben wir Kaffee getrunken, gegessen. Aufs Meer geschaut, auf den Strand. Und einiges gelesen. Zum Beispiel was über Robert Habeck. Er wurde gefragt, wer in der Politik zu wenig zu sagen hat. „Ich“, gab er an. Ja. So ein Selbstbewusstsein muss man auch erst mal haben. Gelesen haben wir auch einen Artikel über Olaf Scholz. Warum der gerade so unglaublich erfolgreich ist. Also der Scholz, nicht der Artikel. Es liege vor allem an der Schwäche seiner Mitkonkurrenten, lautete das Fazit des Autors. Ja. Wir sind da mittlerweile ziemlich entspannt bei solchen Nachrichten.

Zwischen dem Lesen, Kaffee trinken und essen sind wir auch noch einkaufen gefahren, zum nächsten Supermarkt. Ob Bine mitwill, habe ich gefragt. „Na klar“, meinte sie. „Ohne mich wärst du doch in zwei Minuten drin und in drei Minuten wieder draußen.“ „Ja“, entgegnete ich. „Wenn ich mitgehe, schaffst du das nicht“, meinte Bine. „Ja“, erwiderte ich. Also nicht, dass ich immer so wortkarg wäre. Aber im Urlaub, da kann man sich ja schon mal bei aller Entspannung auch das ein oder andere Wort sparen. Man muss ja nicht alles ausdiskutieren. Vor allem bei der High-speed-recreation, in Klammer – hsr –, da muss man schon drauf achten, dass man nicht übertreibt mit der Kommunikation. Warum? Da könnte ja gleich eine Diskussion draus werden. Bei der man sich womöglich aufregen müsste. Und das ist ja ganz schlecht für hsr. Da wäre die mühsam errungene Entspannung gleich wieder flöten. Und wenn wir wieder nach Hause fahren, dann sollten wir ja beide eigentlich … also so richtig von innen heraus … sozusagen höhenentspannt, sein. Heißt das so? Nich? Tiefenentspannt? Ach so. Ja. Egal.

Man sieht also – so ganz einfach ist das gar nicht mit der Entspannung. Ein Fehler – und zack … alles kann gleich wieder futsch sein. Wenn du, also nur so als Beispiel … wenn du versuchst … so richtig aus dir heraus … an nichts zu denken … Pah. Was da alles dabei rauskommen kann. … Tante Frieda zum Beispiel. … Die war ja so streng katholisch, so streng, ich sag euch … die ist nicht zur Hochzeit ihrer Töchter gegangen … weil die alle evangelisch geheiratet haben … Hätten die einen Schimpansen geheiratet, egal, Hauptsache katholisch… Ist doch bescheuert oder? … Jetzt kann ich mich natürlich fragen, wenn ich so richtig an gar nichts denken will … wieso fällt mir dann ausgerechnet Tante Frieda ein? … Ja. Da kannse mal sehen, was in meinem Kopf so alles Platz hat. Andere denken vielleicht tatsächlich an nichts. Ich an Tante Frieda … Aber die anderen kannten ja Tante Frieda auch nicht.

Bine fragt mich gerade, in meine kreativ-entspannte Phase hinein: „Was tust du jetzt mit mir?“ Weil ich mit meinem Nichts-denken schon wieder deutlich weiter bin, sage ich: „Hast du übrigens gemerkt, dass ich jetzt gerade schon wieder älter geworden bin?“ Sie schaut mich zweifelnd an. „Und jetzt schon wieder“, sage ich. „Schon wieder einige Sekunden älter.“ „Ich doch aber auch“, sagt Bine dann. Seltsam. „Man sieht dir das gar nicht an“, antworte ich mit dem einzig vernünftig Unverfänglichen, das mir gerade einfällt. Verrückt ist das aber schon. Also, wenn ich an nichts denken will – was da alles so dabei rauskommt. Fast Tiefenphilosophisches kann dabei rauskommen. Dass nämlich die Zeit immer einfach so weiterrast. Obwohl wir uns doch entspannen wie verrückt. … Vielleicht ist zu viel Entspannung ja auch nicht gesund, denke ich gerade. Vielleicht sollte man zwischendrin einfach mal was ganz Normales machen. Also nicht nur aufs Meer und den Strand schauen, sondern aktiv sein. Ja. Aktiv und trotzdem entspannt.

Ich hol mir jetzt mal ein Glas Wein. Und dann stoße ich mit Bine an. Und dann sehen wir weiter. Was da so kommen könnte. Ich probier’s nochmal mit dem Nichtsdenken und Entspannen. Ich lasse mich vom Plätschern des Meeres inspirieren. Und dann kommt da sekundenlang … nichts. Kein Rauschen, nicht mal ein Plätschern. Einfach gar nichts. Nur Stille. Ist das Meer jetzt auch schon tiefenentspannt? Warum kommt da nichts? Zackzefix. Eigentlich ist doch Flut. Und dann so was … jetzt … jetzt schwappt wieder so eine winzige Welle an den Strand. Und dann noch eine kleinere hinterher. Und dann wieder … nichts. Da kann man doch nicht entspannen, wenn da ewig lang nichts kommt. Wir sind doch in der Bretagne. Da müsste doch das Meer toben. Die Wellen sich an den Felsen brechen. Hier an unserem Strand bricht sich gar nichts. In viel zu langen Abständen schwappen die winzigen, fast nicht wahrnehmbaren Wellen an den Strand, umspülen in größter Sanftheit die Felsen.

Hammer. Da fährt man fast 1200 Kilometer in die Bretagne, um eine Brandung zu erleben, die am Bodensee dreimal so stark ist. Bei Windstille. Ohne Sturm. Bei schönem Wetter. Und hier? Nichts. Also, wenn ich so ein Pauschaltourist wäre, ich würde mich doch glatt beim Reiseveranstalter beschweren. Das ist doch kein Meer hier, kein Atlantik. Tote Hose. Hab ich nicht gebucht. Obwohl. Vor zwei Jahren war das schon mal so. Wir kennen das also schon. Aber vor zwei, drei Tagen hatten wir ja tatsächlich so was ähnliches wie Brandung hier. Das war entspannend. Richtig toll. Wie die Gischt an den Felsen hochspritzte. Immer wieder. Und dann haben wir die nahenden Wellen beobachtet … und jetzt, sagte ich manchmal zu Bine.

„Die Welle da draußen, ha, boah ey, die wird doch … die muss doch riesig …“ Und dann … nichts. So wie in meinem Kopf. Nichts. Obwohl. Da war doch Tante Frieda. Wenn die sich mit Schwung gegen die Felsen hier geworfen hätte … wie das gespritzt hätte. … Wie komm ich jetzt nur auf solch einen Gedanken? „Weil dir ein Glas Wein fehlt“, sagt Bine. Und ist schon aufgesprungen. Ja. Schön. Bine sorgt für meine Entspannung. Und für meinen Rotwein. Ach. Wie bin ich entspannt. Ganz tief. Jetzt auf einmal. Ganz plötzlich. Wahrscheinlich hilft der Wein ungeheuer beim Entspannen. Und beim Nichtsdenken. Vielleicht hilft auch der Wein beim Schalter umlegen. Beim Nichtsdenken mit Vollgas. Alles aus meinem Hirn raus. Wirklich alles … Wo bin ich hier überhaupt? Und wer bin ich? Und wer ist diese Frau an meiner Seite? … Naja … Ganz so schlimm muss es ja nicht werden, das mit dem Nichts im Hirn.

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