Schluss mit heißer Kartoffel

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Am Mittwoch, 18. August, machte Robert Habeck im Bundestagswahlkampf, als Teil der Doppelspitze der Grünen, Station auf dem Reutlinger Marktplatz.


Schon als Robert Habeck sich den Weg durch die Menschenmenge auf dem Reutlinger Marktplatz bahnte und in die Nähe der runden Bühne kam, brandete langanhaltender Applaus auf. Nach Polizeiangaben waren zwischen fünf- und sechshundert Menschen in die Mitte der Achalmstadt gekommen, um den Parteivorsitzenden aus dem hohen Norden der Republik zu sehen und zu hören. „Robert Habeck kommt aus dem Wahlkreis 1 der Republik, aus Flensburg-Schleswig“, stellte Moderator Tom Rose den prominenten Gast vor. Habecks erstes Statement? „Der Wahlkampf war bislang sehr oberflächlich, das muss sich ändern.“ Der Grünen-Parteivorsitzende forderte weiter: „Den großen Fragen der Zeit darf nicht mehr ausgewichen werden.“ An die politischen Gegner gerichtet, sagte er: „Wer keine Antworten hat, sollte aufhören, zu kritisieren.“

Genau das tue aber die derzeitige Bundesregierung: Die große Koalition „weigert sich, Debatten zu führen, die Antwortlosigkeit ist gleichzeitig Verantwortungslosigkeit“. Bei der künftigen Regierung, „egal, wie die aussieht“, müsse Schluss sein mit dieser Verantwortungs- und Kompetenzlosigkeit. „Es muss endlich aufhören mit heißer Kartoffel“, so Habeck. Das immer wieder erlebte Weiterreichen von Verantwortung in der deutschen Politik der vergangenen Jahre dürfe keinen Platz mehr haben. Denn: „Von der großen ökologischen Transformation sind alle politischen Bereiche erfasst, ganz besonders aber die Gerechtigkeit“, betonte der Grünen-Vorsitzende. Aber: „Wenn von der Transformation nur wenige profitieren, fliegt uns der Laden auseinander.“

Doch Robert Habeck wurde auf dem Marktplatz auf der an einen übergroßen Pavillon erinnernde Bühne auch ganz konkret: „Es kann nicht sein, dass Banken, die den Staat geschädigt haben, auch noch Steuergelder kassieren.“ Und Habeck machte auch vor der Kritik an den Grünen nicht halt: Große Empörung entstehe immer genau dann, wenn die Grünen die drei F-Themen (Fliegen, Fahren, Fleisch) ansprechen: „Immer dann entdecken unsere Gegner ihr Herz für soziale Gerechtigkeit“, sagte Habeck. Dabei seien soziale Gerechtigkeit und Fairness genau das, was grüne Politik ausmache. Ein Beispiel: Wenn gutverdienende Singles nach dem Modell der Grünen mit einem Jahresverdienst von 100 000 Euro jährlich 1500 Euro mehr an Steuern bezahlen sollen, dann sei das „klassische Umverteilung“. Und für die Gutverdiener „nur ein kleines bisschen mehr“ an Steuerbelastung.

Zum Kernthema der grünen Partei kam Habeck auch: Als das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert hatte, ihre Klimaziele nachzubessern, habe das Gericht betont: „Der Schutz des Klimas ist der Schutz der Freiheit.“ Das sei ganz im Sinne der Grünen, die aber auch betonen: „Freiheit ist nicht Regellosigkeit.“ Schließlich könne sich nicht jeder im Straßenverkehr völlig rücksichtslos verhalten und keine Regeln mehr befolgen. Oder im Laden mitnehmen, ohne zu bezahlen. „Leben ohne Regeln ist asozial“. Vielmehr gehe es darum, „dass unser verdammtes Leben jetzt gefährdet ist und das muss in den Diskussionen in den kommenden Wochen berücksichtigt werden“, so Habeck. „In diesem Sinne – für die Freiheit bei der nächsten Bundestagswahl.“ Donnernden, sehr lang anhaltenden Applaus erntete Robert Habeck, er wurde regelrecht gefeiert wie ein Popstar. Eines können selbst Kritiker ihm auf jeden Fall nicht vorwerfen – dass er nicht reden kann. Dass er es schafft, die Zuhörer mit- und ernst zu nehmen. Nur bei einem Schreihals ist Habeck das offensichtlich nicht gelungen: Der versuchte immer mal wieder dröhnend, auf sich aufmerksam zu machen. Gelungen ist ihm das nicht, er erntete aber immer wieder böse Blicke dafür.

Kurz bevor der Grünen-Parteivorsitzende zu seiner fast 1,5stündigen Rede angehoben hatte, war es an Beate Müller-Gemmeke konkrete Forderungen der Grünen für den Arbeits- und Sozialbereich aufzustellen: Weil die Arbeitswelt und die Wirtschaft sich ändern müsse und ändern werde, brauche es ein „Qualifizierungskurzarbeitergeld, damit Chancen und Perspektiven entstehen“, so Müller-Gemmeke. Rund 20 Prozent der Arbeitnehmer säßen in Deutschland in prekärer Beschäftigung wie etwa Leiharbeit fest. Das müsse sich ändern. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag“, forderte die Reutlinger Grünen-Kandidatin für den Bundestag. „Und Klimaschutzpolitik muss mit mehr sozialer Gerechtigkeit verbunden werden.“

Schon vor der Pandemie habe sie „ein Recht auf Homeoffice gefordert, für Lieferdienste braucht es Rahmenbedingungen, um die prekäre Beschäftigung von allzu vielen in dem Bereich zu stoppen“. Zudem brauche es eine Bürgerversicherung, in die alle einzahlen müssen. Und es führe kein Weg daran vorbei, die Pflege endlich tatsächlich aufzuwerten – durch einen flächendeckenden Tarifvertrag, der für alle Einrichtungen gültig sei. Zudem müsse ein höherer Personalschlüssel in den Heimen gelten, damit die Fachkräfte auch endlich wieder mehr Zeit für die Bewohner hätten. Warum die Grünen gewählt werden sollen, wollte Tom Rose als Moderator von Müller-Gemmeke wissen. „Weil wir die einzige Partei sind, die nachhaltige Politik macht“, so die Bundestagsabgeordnete aus Pliezhausen, die seit 2009 im Parlament vertreten ist.

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