„2003 wurde ich neu geboren“

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Seit drei Jahren gibt es die Substitutionsambulanz unter dem Dach der Reutlinger Psychiatrie. Leitung und Patienten berichten über die Tätigkeit, über Erfolge und Schwierigkeiten beim Leben mit der Opiatsucht

 „Durch die Heroinsucht habe ich alles verloren, ich habe meine Eltern beklaut, mein Job war weg, die Droge hat mein ganzes Denken und Handeln und bestimmt“, sagt der heute 46jährige Bernd K. (Namen der Patienten von der Redaktion geändert). Die 55jährige Sabrina B. stimmt ihm zu: „Ich bin morgens mit dem Gedanken an das Heroin aufgewacht und mit der Frage, wie ich an Geld komme, um die Droge kaufen zu können.“ Sie war schon 33 Jahre alt, als ein Freund sie zum Heroin-probieren verleitet hatte „und ich hatte zwei Kinder“. Beide Patienten waren laut ihrer eigenen Aussage nach nur zwei Wochen mit Heroin „voll drauf“, fanden aber irgendwann den Weg zur Substitution. Seit drei Jahren erhalten sie in der Substitutionsambulanz der PP.rt ihre Ersatzmedikamente. Und sie sind hochzufrieden mit der Behandlung dort.

„Wir kriegen beide einmal in der Woche ein Rezept für das Methadon“, sagt Bernd K., andere Patienten kommen täglich in die Substitutionsambulanz in der Albstraße, manche zwei oder dreimal die Woche.  „Das ist ganz unterschiedlich“, betonen Dr. Jamil El Kasmi (Chefarzt der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen an der PP.rt) und Dr. Frank Schwärzler, der ärztliche Direktor der PP.rt. „Wir stellen hier das Angebot für den ganzen Landkreis Reutlingen sicher, nehmen den Hausärzten aber nichts weg, die bisher für die Substitution zuständig waren“, so Schwärzler. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren sind drei Substitutionsärzte im Kreis Reutlingen in den Ruhestand gegangen, einer ist gestorben. Für all deren Patienten ist nun die PP.rt zuständig – mit einem Fachteam aus Ärztinnen und Ärzten sowie weiterem Fachpersonal. 147 Patientinnen und Patienten waren es in den vergangenen drei Jahren, seit der Einrichtung der Substitutionsambulanz in der Albstraße.

„Mir hilft das Konzept hier“, sagt Sabrina B.. Sie ist schon seit 20 Jahren in der Substitution, mit ihrem Arzt war sie zuvor nicht zufrieden. „In der Ambulanz ist es durch das Fachpersonal besser – ich bin brutal labil und kriege hier den Halt, den ich brauche.“ Bernd K. kam 1995 als 20-Jähriger zum Heroin. Genauso wie Sabrina B. „habe ich vorher auch überhaupt keine Drogen genommen und keinen Alkohol getrunken, damals habe ich über einen Freund einfach mal Heroin probiert“, berichtet er beim Pressegespräch in der PP.rt. Als er nach acht Jahren sozusagen im Vollrausch die Ausfahrt zur Substitution fand, „wurde ich 2003 neu geboren“. Die Beschaffungskriminalität fiel weg, all die Gedanken jeden Morgen, wie er sich an diesem Tag Geld für den Stoff besorgen könnte. „Ich habe in diesem Jahr mein legales Leben wieder gefunden.“ Nach einem Jahr hatte er wieder eine Arbeitsstelle, er ist in Vereinen aktiv, „ich habe mein normales gesellschaftliches Leben wieder im Griff“, betont K.. Und den Druck, der ihm anfangs gemacht wurde, dass er nach wenigen Jahren vom Methadon wegkommen müsse, den habe er jetzt nicht mehr.

„Ein Ziel der Abstinenz zu Beginn der Therapie festzulegen, ist auch nicht unbedingt sinnvoll, weil es sich immer wieder gezeigt hat, dass Patienten das nicht schaffen“, betont Frank Schwärzler. „Auch bei Diabetes und Bluthochdruck müssen Patienten oft ihr Leben lang Medikamente nehmen, warum sollte das bei der Opiatsubstitution anders sein?“ Was auf jeden Fall vorteilhaft sei: Folgeschäden der Drogensucht und „sekundäre Komplikationen“ durch gepanschtes Heroin, verdreckte Spritzen oder sonstige „Nebenwirkungen“ der illegalen Drogensucht fallen weg. Allerdings könne es auch bei den Ersatzstoffen zu Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen, Müdigkeit oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen. Und: Rund jeder Fünfte Heroinabhängige nehme andere Drogen oder auch Alkohol als „Beikonsum“. „Und etwa zwei Drittel aller Heroinsüchtigen rauchen Haschisch“, sagt El Kasmi. „Aber wir sind für alle da – und sei es ‚nur‘, wenn wir verhindern können, dass die Leute auf der Straße landen.“

Und der Chefarzt ergänzt: „Wir sind dafür da, dass die Abhängigen ganz schnell ihr Leben ändern können – aber jeder Mensch ist anders, es geht nicht bei jeder und jedem immer geradeaus, sondern manchmal auch rückwärts“, betont der Chefarzt. „Fairerweise muss man auch sagen, dass wir Drogensüchtigen nicht immer ganz einfach sind“, sagt mit Bernd K. einer, der es geschafft hat, sich mit dem Methadon gesellschaftlich wieder voll zu integrieren.

 

INFO 1:

Substitutionsambulanz in Reutlingen

 Die Substitutionsambulanz in Reutlingen ist vor drei Jahren unter dem Dach der PP.rt eröffnet worden, um dem fortschreitenden Mangel an Substitutionsplätzen bei niedergelassenen Ärzten entgegenzuwirken. Die Finanzierung ist nicht völlig abgedeckt, weil die Abrechnung direkt mit den Krankenkassen nur bestimmte Verrechnungsposten zulässt. „Das deckt aber nicht die Kosten, die wir durch das Personal und den Sachaufwand haben“, betonte Dr. Frank Schwärzler. Geöffnet ist die Substitutionsambulanz an sieben Tagen die Woche, 365 Tage im Jahr. „Die Substitutionstherapie und die psychiatrische Behandlung ergänzen sich und können zu einer verbesserten Lebensqualität und Behandlungszufriedenheit der Patienten führen“, so der ärztliche Direktor der PP.rt.

INFO 2:

Substitution in Deutschland

 Bundesweit wurde nach den Ausführungen von Dr. Jamil El Kasmi vor wenigen Tagen der 100 000ste Patient mit einem Heroin-Ersatzstoff substituiert. In Baden-Württemberg erhalten rund 10 500 Abhängige Methadon oder ein anderes Opiod (also den künstlichen Ersatzstoff) bei rund 350 Ärzten auf Rezept. „Das sind etwa 30 bis 40 Patienten pro Arzt“, so der Chefarzt an der PP.rt. Im Landkreis Reutlingen gibt es noch einen einzigen niedergelassenen Arzt, der Abhängige substituiert, alle anderen der insgesamt 147 Patienten kommen zur Substitutionsambulanz bei der PP.rt.

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