„Nichts immer noch besser als gar nichts“?

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Immer mehr Menschen aus osteuropäischen Ländern werden in Reutlingen „in der Öffentlichkeit als sichtbar wohnungslos wahrgenommen“, sagt Heike Hein von der Arbeiterwohlfahrt (AWO). „Ein Teil der Zuwanderer bettelt auf der Straße und nächtigt im öffentlichen Raum.“ Zusammen mit ihren KollegInnen Bettina Kupferschmidt und Gert Auer appelliert Hein: „Die Beratungsangebote für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in prekären Lebens- und Wohnsituationen müssen ausgebaut werden, Unterbringungen müssen stattfinden und Rechte von EU-Bürgern gestärkt werden“, fordern alle drei.

In diesem Zusammenhang hatte ich schon vor gut zwei Jahren über mögliche „Bettelbanden“ recherchiert: Damals sagte Ordnungsamtsleiter Albert Keppler, dass es „keinen hundertprozentigen Beweis“ dafür gebe, so der Leiter des städtischen Ordnungsamts. „Die Situation ist bei vielen dieser Menschen im eigenen Land extrem schlecht, bestimmte Volksgruppen werden diskriminiert, sie kriegen keine Arbeit und keine Unterstützung“, betonte Keppler. Dazu gibt es auch eine Dokumentation in der ARD-Mediathek unter dem Titel „Bettler aus Rumänien – Bedürftige oder organisierte Bande?“ Aber gibt es sie nun tatsächlich die kriminellen Bettlerhorden? „Organisiertes Betteln und Sammlungsbetrug sind allgemein schwer nachzuweisen, manchmal liegen Indizien vor, die sich aber meist nicht soweit konkretisieren lassen, dass sie in ein Strafverfahren münden“, betonte Andrea Kopp von der Pressestelle des Polizeipräsidiums Reutlingen vor gut zwei Jahren. Damals „waren nur Einzelfälle aktenkundig“, aber auch Kopp bestätigte, dass bei Kontrollen vor allem Bettler aus Osteuropa angetroffen wurden.

Die Situation hat sich im Lauf der vergangenen zwei Jahre weiter verschärft: Bei der Reutlinger AWO taucht seitdem eine zunehmend größere Zahl an Rumänen und Bulgaren auf, „die hierherkommen, um Arbeit zu finden“, sagt Hein. Die meisten können jedoch wenig oder gar kein Deutsch, haben selten eine Ausbildung. „Einige kommen in der Gastronomie unter, in der Hotellerie oder beim Bau“, weiß auch Anna Schmierer von der Migrationsberatung des Reutlinger Diakonieverbands. Meist würden sie schlecht bezahlt. Ob man von Glück reden kann, wenn sie nicht auf der Straße landen, sondern in „Bauruinen“ unterkommen, in Bruchbuden, wie auch Joachim Haas weiß: „Die Leute werden dann zu Wuchermieten abgezockt“, sagt Reutlingens Sozialamtsleiter.

Bestätigt wird das auch durch die Erfahrungen von Schmierer: „Es gibt Beispiele, so etwa ein Haus beim ehemaligen Fernmeldeamt – das hat neun Zimmer mit jeweils zwei Stockbetten drin.“ Pro Bett verlange der Vermieter 250 Euro im Monat. Macht satte 2250 Euro im Monat. Schmierer kennt auch ein Haus in der Seestraße: „Da laufen Ratten durch das Gebäude, die meisten Leute sind dort nicht lange, versuchen so schnell wie möglich eine bessere Arbeitsstelle zu finden.“ 2019 tauchten zwei Bulgaren in der Beratungsstelle auf: „Die haben bei einem Subsubsubunternehmer auf einer Reutlinger Baustelle gearbeitet.“ Die ersten beiden Monate erhielten sie ihren Lohn, im dritten nur noch einen Teil, ab dem fünften Monat gar nichts mehr, da war der Personaler nicht mehr aufzutreiben“, berichtet Anna Schmierer. „Heulend kamen sie mit ihrem Vermieter hier an und wussten sich nicht zu helfen.“ Auch die Sozialpädagogin konnte sie nur weiterverweisen und zwar an eine Beratungsstelle des DGB namens „mira“ in Stuttgart.

Bekannt sind prekäre Arbeits- und Unterkunftsverhältnisse auch beim Jobcenter: „Es gibt auch in Reutlingen Einzelfallkonstellationen, bei denen für Bürger dieser Länder entsprechende Ansprüche auf (ergänzende) Leistungen bestehen, sowohl auf Regelleistungen als auch auf Kosten der Unterkunft (Miete)“, schrieb Jobcenter-Leiter Karsten Bühl auf Anfrage unserer Zeitung. Wenn Menschen in Arbeitsverhältnissen mindestens 322 Euro verdienen, haben sie nach den Worten von Anna Schmierer Anrecht auf ergänzende Leistungen durch das Jobcenter. Und auch auf Mietkosten – „bis zu 450 Euro für eine Einzelperson“, sagt Schmierer. Manche Vermieter würden das schamlos ausnutzen.

Auch das sei bekannt, schreibt Bühl. In Einzelfällen komme es wohl vor, dass prekäre Unterkünfte finanziert würden. „Grundsätzlich handelt es sich bei Mietverträgen aber immer um privatrechtliche Verträge zwischen Mieter und Vermieter, auch wenn der Mieter die Kosten der Unterkunft (Miete) vom Jobcenter erstattet bekommt“, so der Jobcenter-Geschäftsführer. Auch die AWO weiß darüber Bescheid: „Viele Betroffene berichten in der Beratung über prekäre Wohnsituationen und ausbeuterische Arbeitsbedingungen“, sagt Heike Hein. „In vielen Fällen ist das Ausbeutung und hat manches Mal Sklavencharakter“, bestätigt Anna Schmierer. „Einige der Rumänen und Bulgaren sind auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern ausgeliefert.“

Kein Anrecht auf nichts

Doch was ist mit den Osteuropäern, die in Reutlingen auftauchen und gar keine Arbeit finden? Oder die vielleicht extra zum Betteln herkommen? Es besteht zwar Freizügigkeit für EU-Bürger – sie dürfen überall leben, wohnen, arbeiten. Aber: Ein Anrecht auf Unterstützung haben sie nach den Worten von Joachim Haas nicht. Zumindest nicht, solange sie keine Arbeit finden. Wenn sich die Menschen vergeblich bemühen, aufgrund von fehlenden Qualifikationen und Sprachfähigkeiten nichts finden, wird es eng. Die Kapazitäten der AWO sind mit 16 Notübernachtungsplätzen begrenzt. Wenn kein Platz mehr frei ist, müssten die Kommunen ran. „Städte und Gemeinden sind rechtlich verpflichtet, unfreiwillige Obdachlosigkeit durch ordnungsrechtliche Unterbringung zu beheben, unabhängig von Sozialrechtsansprüchen“, betonen die drei Fachleute bei der AWO. „Allerdings hat auch hier die Selbsthilfe Vorrang“, so Heike Hein. Die Kosten für die Rückfahrt ins Heimatland könnten angeboten werden. Wenn aber im Herkunftsland die Situation für die Menschen noch schlimmer ist als hier auf der Straße? „Dann ist die Verpflichtung zur Unterbringung nicht wirklich geklärt“, sagt Gert Auer. München etwa habe schon reagiert, dort wird in den Wintermonaten eine alte Kaserne geöffnet und Schlafplätze für die Menschen auf der Straße angeboten.

Allerdings sind diese Personen nicht einmal krankenversichert – „und für einige der Osteuropäer ist nichts immer noch besser als gar nichts“, betont Gert Auer. Auch wenn die bettelnden Rumänen oder Bulgaren mittlerweile schon zum Reutlinger Stadtbild dazugehören, „das Gros der Bevölkerung kriegt die Situation der Leute hier gar nicht mit“, zeigt sich Auer überzeugt. Allerdings bestätigt Reutlingens Sozialamtsleiter Haas, „dass das Problem durchaus bekannt ist“. Aber: „Die Befürchtung ist doch die, dass Heerscharen hierherkommen, um die Sozialhilfe auszubluten“, spricht Anna Schmierer deutlich aus. Dazu hatte das Jobcenter bundesweit schon vor ein paar Jahren eine interne Arbeitshilfe unter dem Titel „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ herausgegeben. Die „Arbeitshilfe“ existiere auch in Reutlingen, schreibt Karsten Bühl. „Im Landkreis Reutlingen gab es hierzu bislang jedoch regelmäßig keine Anhaltspunkte.“

Grundsätzlich steht aber die Frage im Raum: Kann man quasi sehenden Auges die Menschen auf der Straße verhungern, erfrieren lassen? Kann man nicht, fand zumindest Jörg Mutschler, als er das Problem beim Abschlussgottesdienst der diesjährigen Vesperkirche ansprach und von zwei Rumänen berichtete, die bei Eiseskälte in der Pomologie übernachtet hatten. Und auch der bereits verstorbene Reutlinger Pfarrer Klaus Kuntz hatte auf diese Frage vor vielen Jahren mit der Gründung des Arbeitskreises Obdachlose und der Vesperkirche eine eindeutige Antwort gegeben.

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