Ein weiterer unvergesslich schöner Tag. Und das, obwohl ich heute morgen etwas „oleidelich“ war. Keine Ahnung, warum und wieso. Dieses schwäbische Wort drückt wie kein hochdeutsches Adjektiv aus, wie ich mich fühlte: Schon nach dem Aufwachen hatte ich überhaupt keine Lust aufzustehen, ich wäre am liebsten liegengeblieben, obwohl der Wecker schon 10 Uhr anzeigte. Ich war immer noch müde, hatte kurz vor dem Aufwachen noch einen ziemlichen Blödsinn geträumt, mein innig gehasster Juckreiz hatte mich zudem überfallen, ein Lymphknoten am Hinterkopf war und ist ziemlich angeschwollen. Und überhaupt wäre ich gerne vor mir selbst davongelaufen. Beziehungsweise aufgrund der zu großen Anstrengung dann doch lieber einfach im Bett liegengeblieben. Bine spürte das natürlich, dachte, sie sei schuld an meiner miesen Laune. War sie natürlich nicht. Wie bereits geschrieben – ich hätte mich am liebsten in einem Loch verkrochen. Und mich vor der Welt und die Welt vor mir versteckt. Was ja dann doch irgendwie nicht ging. Ich war also oleidelich. Und es tat mir leid für Bine. Mit so einem Stinkstiefel den Tag verbringen zu müssen, ist auch nicht unbedingt eine Freude. „Ich kenn so was von mir selbst überhaupt nicht“, sagte sie. „Warum machen es sich die Leute nur selbst so schwer.“ Dabei wollte ich ja gar nicht oleidelich sein. Ich war es einfach. Und konnte mich selbst nicht ausstehen. Hab mir das aber auch nicht ausgesucht. Naja.
Wir fuhren dann schließlich nach Audierne. Mal wieder eine Stunde Fahrt zu einem besonderen Punkt in der Bretagne, so langsam kennen wir schon die hiesigen Orte in der Umgebung, durch die wir immer wieder fahren. Meist sind wir ja unterwegs in Richtung Südwesten. Die auffälligsten Bauwerke in den kleineren Orten sind meist die Kirchen. Die Türme sind oft sehr spitz nach oben zulaufend, sehr filigran gearbeitet. Sehen alle sehr alt aus. Und manche haben auch ein zweites oder sogar drittes zusätzliches Türmchen nebendran. „Das hat bestimmt seine Bedeutung“, sagte ich wissend zu Bine. Nur welche? Oft sehen diese doppelten oder dreifachen Turmansammlungen aus, wie eine Raketenstartrampe. Seltsam.
Bei manchen Kirchen steht auch ein Kalvarienberg, darauf abgebildet sind jeweils Szenen aus dem Leidensweg Christi – eine bretonische Besonderheit, solch ein „calvaire“, die vor allem im Finistère zu finden sind. Auffällig in ganz Frankreich sind natürlich auch die Schwellen, die in fast allen Orten zu finden sind. Also die Hubbel, die alle Auto- und Motorradfahrer zum deutlich langsameren Fahren zwingen. Wer da nämlich nicht 30 oder langsamer fährt, der riskiert nicht nur heftige Genickstarre, sondern auch Schäden am Auto. „Die Hubbel würde ich am liebsten mitnehmen“, sagt Bine immer mal wieder. Und das selbst dann, wenn wir selbst beim Drüberfahren auch mal wieder heftig durchgeschüttelt werden. Ich frage mich immer wieder, wie das die Krankenwagen hier machen, wenn die mit Schwerverletzten innendrin so schnell wie möglich zum Krankenhaus müssen?
Als wir in Audierne ankamen, war meine Laune schon etwas besser. Eine tolle Stadt. An einem Fluss, der wie viele andere in der Küstenregion der Bretagne durch das Phänomen beherrscht wird, dass die Gezeiten dort eine entscheidende Rolle spielen: Als wir zunächst am Hafen entlangschlenderten, wurde ein großer Teil des Flusses von Sandbänken beherrscht.
Darauf waren zahlreiche Boote zu sehen, zumeist kleinere, die entweder mit dem Kiel im Sand steckten oder auch mit schwerer Schlagseite nach links oder rechts dort lagen. Als wir die Stadt rund vier Stunden später wieder verließen war das gesamte riesig breite Flussbett mit Wasser gefüllt, alle Schiffe schwammen darauf herum, so wie sich das gehört. Faszinierend war, wie innerhalb kürzester Zeit das Wasser um einige Meter angestiegen war und bis weit ins Landesinnere das Bett des Flusses füllte. Aber die Stadt hatte noch viel mehr zu bieten. Viele tolle Gebäude, enge Gassen,
zwei Kirchen auf dem Hügel, auf dem sich die Altstadt befindet. Wir sind den Berg mehrmals rauf- und runtergelaufen, durch zumeist sehr schmale Treppenaufgänge.
An der Küste waren wir aber natürlich auch. Denn Audierne liegt direkt am Meer. Und ein toller, wenn auch ziemlich kleiner Leuchtturm krönt den Anblick auf das weite, weite Meer, auf das wir zuliefen. „Stell dir vor“, sagte Bine. „Da kommt jetzt in Richtung Westen außer Wasser wirklich gar nichts mehr.“ Einmal mehr war diese Vorstellung unglaublich. Der Leuchtturm als letzter Außenposten vor Amerika.
Und wenn wir uns noch vor den Turm stellten, auf diese schmale Art von Balkon drum herum, dann waren wir quasi Amerika extrem nahe. Eine seltsame Vorstellung. Aber auf jeden Fall ein wahnsinnig toller Anblick, als wir auf den Turm auf der Kaimauer zuliefen, immer die Augen auf das Gebäude und das unglaublich glitzernde Wasser dahinter und daneben gerichtet. Toll. Unglaublich bewegend.
Eines muss noch erwähnt werden – Humor haben die Leute in Audierne offensichtlich auch, wie man auf dem Bild unten sieht.
„Wenn Sie mir meinen Parkplatz wegnehmen, nehmen Sie auch meine Behinderung mit.“
Nach rund vier Stunden Stadtbesichtigung, inklusive zwei Grand Crème (mit kalter Milch) vor einem Pub zog es uns wieder heim. Also mich zumindest. Bine hätte noch gerne in dem Ort Pont Croix Halt gemacht, ich fühlte mich überfordert. Hatte keine Lust, noch eine Stadt zu besichtigen – selbst, wenn der Ort erneut so schön und spektakulär gewesen wäre wie Audierne. Bine tat mir leid, dass ich ihr diese Absage erteilt hatte. Hätte ich ihr den Wunsch erfüllt, wäre ich wahrscheinlich wieder oleidelich gewesen. Als wir schließlich zurück in der Ferienwohnung ankamen, waren wir beide dann aber ziemlich platt. Kurz nach dem Essen zog es uns allerdings schon wieder nach draußen an den Strand hier.
Unglaubliche Wolkenformationen und die dadurch strahlende Sonne zauberten erneut nie zuvor gesehene Bilder an den Strand. Einfach nur wunderbar, hier die Sonnenuntergänge zu erleben. Wir werden sie vermissen.