„Wir können auch Landesaufnahmeprogramm“

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Engagierte der Seebrücke Reutlingen demonstrierten am Sonntag erneut auf dem Reutlinger Marktplatz. Keine Veränderungen in Lagern an den europäischen Grenzen

Am Sonntag, 7. März, hatte die Seebrücke Reutlingen zusammen mit dem Asylpfarramt und der evangelischen Kirche erneut eine Aktion auf dem Reutlinger Marktplatz durchgeführt. „Wir wollen hier verdeutlichen, dass Situation in den Lagern an den europäischen Außengrenzen sich seit einem Monat nicht verändert hat“, sagte Emma Baumgart als Engagierte bei der Seebrücke. Diese Aussage bestätigte auch der Reutlinger Arzt Dr. Martin Binder, der momentan zum zweiten Mal auf Lesbos ist und versucht im Auftrag einer Nicht-Regierungsorganisation den Menschen in einem neu erbauten Flüchtlingslager zu helfen.

Das Lager Kara Tepe wurde an neuer Stelle auf der griechischen Insel errichtet, doch die Zustände dort sind nach den Worten von Binder nicht besser als die in dem abgebrannten Lager Moria. „Die sanitären und hygienischen Bedingungen sind erbärmlich, es gibt nur Dixi-Toiletten, behelfsmäßige Duschen für ca. 1x/Woche und Bewohner, nur sporadische Wasserversorgung, kaum Strom, kaum Heizmöglichkeit. Die Kunststoffzelte sind Regen, Hagel und Sturm direkt am Meer ausgesetzt. In den Zelten für junge Männer leben 200 Menschen pro Zelt in Stockbetten ohne jede Privatsphäre, und das sind annähernd alles Menschen, die in ihren Heimatländern, auf der oft viele Monate, wenn nicht Jahre dauernden Flucht und jetzt seit Monaten bis zu Jahren andauernden Aufenthalte hier auf Lesbos andauernd körperlicher, psychischer, sexueller Gewalt, Misshandlung, Folter, Prostitution ausgesetzt waren“, schrieb der Arzt in einer Mail vom 28. Februar 2021 (Binders gesamte Mail steht am Schluss dieses Textes).

Die Situation in den Flüchtlingslagern ist auch nach den Worten von Baumgart genauso menschenunwürdig, wie das die Seebrücke schon mehrfach auf dem Marktplatz demonstriert hatte. So auch an diesem Sonntag wieder: Auf dem Marktplatzboden ragten Arme und Hände verzweifelt um Hilfe bittend aus dem Boden heraus, Drahtzäune waren um ein einfachstes Zelt gespannt und Menschenknochen lagen auf dem Boden, die für all jene Toten stehen, die im Mittelmeer ertrunken sind. „Ich halte diese Situation nicht aus“, betonte Emma Baumgart und begründete damit ihr Engagement für die Seebrücke. Im Gegensatz zu diesen unmenschlichen und menschenunwürdigen Zuständen an den europäischen Grenzen hatten die Aktiven der Seebrücke Zettel mit den 33 Namen derjenigen Städte in Baden-Württemberg auf dem Boden gelegt, die sich als „Sicherer Hafen“ zur Verfügung stellen – und damit sagen, dass sie zusätzliche Geflüchtete bei sich aufnehmen wollen.

„Die Menschenrechte werden an den Außengrenzen massiv verletzt, Deutschland und ganz Europa schaut zu“, ist auch Hannah Jehle empört. „Ich will mich dagegenstellen und zumindest im kleinen Rahmen gegen diese Missstände angehen, mit Menschen ins Gespräch kommen.“ Genauso wie Emma Baumgart studiert auch Jehle Sozialpädagogik. „In unserem Umfeld denken viele wie wir, doch wir versuchen, auch darüber hinaus Menschen von diesem Unrecht an den Grenzen zu überzeugen“, sind sich die beiden Studentinnen einig. Gerade in Deutschland würden Menschenrechte immer so hochgehalten – doch in diesen konkreten Situationen, in diesem Elend in den Flüchtlingslagern würden alle nur zuschauen. Wegschauen. Ignorieren. Auch deshalb lauten die Forderungen der Seebrücke: „Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht.“ – „Sichere Fluchtwege und Entkriminalisierung der Seenotrettung.“ – „Ein menschenrechtskonformer und humanitärer Umgang mit Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen.“ Und die Konsequenz der Seebrücke lautet (als Aufkleber): „Wir können alles. Auch Landesaufnahmeprogramme.“

 

Text von Dr. Martin Binder, den er am 28. Februar 2021 aus dem Lager Moria auf Lesbos verschickt hatte:

Nun bin ich seit gut zwei Wochen auf Lesbos, von denen ich eine in Quarantäne verbringen musste. Eine Woche Arbeit im Camp – wie sieht der erste Eindruck aus?

Auf den ersten – oberflächlichen – Blick sieht das neue Lager mit den fein säuberlich aufgereihten weißen UNHCR-Zelten relativ geordnet aus. Aber was spielt sich in der Realität hier ab?

Zuerst: Verglichen mit dem alten Lager Moria vor einem Jahr (22.000 Bewohner) sind jetzt nur noch 7.000 Bewohner im Lager. Ein Rückgang, der von Griechenland immer wieder als Erfolg gefeiert wird.

Die Geflüchteten, die die Insel verlassen durften/mussten, landeten vom Regen in die Traufe: in der Illegalität unter Brücken oder in Parks in den großen Städten Griechenlands, oder in total abgelegenen abgeriegelten unmenschlichen Lagern im Landesinneren, wo sie – unbemerkt und abgeschirmt vor der Öffentlichkeit – faktisch gefangen gehalten werden.

Im neuen Lager Kara Tepe habe ich bisher keinen Bewohner gefunden, der die Bedingungen im Vergleich zu Moria für besser empfindet. Die sanitären und hygienischen Bedingungen sind erbärmlich, es gibt nur Dixi-Toiletten, behelfsmäßige Duschen für ca. 1x/Woche und Bewohner, nur sporadische Wasserversorgung, kaum Strom, kaum Heizmöglichkeit. Die Kunststoffzelte sind Regen, Hagel und Sturm direkt am Meer ausgesetzt. In den Zelten für junge Männer leben 200 Menschen pro Zelt in Stockbetten ohne jede Privatsphäre, und das sind annähernd alles Menschen, die in ihren Heimatländern, auf der oft viele Monate, wenn nicht Jahre dauernden Flucht und jetzt seit Monaten bis zu Jahren andauernden Aufenthalte hier auf Lesbos andauernd körperlicher, psychischer, sexueller Gewalt, Misshandlung, Folter, Prostitution ausgesetzt waren.

Wir merken das in unserer täglichen Arbeit, wo die allermeisten Patienten wegen körperlicher Beschwerden die Ambulanz aufsuchen, wo aber im Gespräch schnell klar wird, dass sie an den psychischen Folgen ihrer vielfältigen Traumatisierungen leiden, die auch hier im Lager nicht enden. Selbstverletzungen und Suizidversuche sind an der Tagesordnung, sei es durch Überdosen, Erhängen, Pulsaderverletzungen, Selbstertränken im Meer.

Während die medizinischen Möglichkeiten für körperlich Erkrankte sich gegenüber Moria verbessert haben, sind die Bedingungen für psychologische/psychiatrische Probleme unverändert schlecht. Während zum Beispiel Diabetiker, Hochdruck- oder Schlaganfallpatienten die Chance haben, über Listen für besonders vulnerable Patienten bevorzugt evakuiert oder aufs Festland ausgeflogen zu werden, gibt es diese Möglichkeiten für die vielen seelisch erkrankten nicht. Im Gegenteil wird von der Lagerleitung jeder der laufend sich ereignenden Suizidversuche abgetan als Erpressungsversuch, um Aufmerksamkeit zu erlangen und evakuiert zu werden.

Die Schande für Europa, die ich vor einem Jahr bei meinem ersten Aufenthalt als nicht mehr länger tolerierbar beschrieben habe, geht weiter und wird von der Politik und den meisten Medien ignoriert. Dazu trägt auch die Blockadestrategie der griechischen Behörden bei, die – geduldet von EU, WHO und UNHCR! – den im Lager arbeitenden NGOs einen Maulkorb erteilt haben. Es ist strengstens verboten, irgendetwas, was man im Lager gehört oder gesehen hat, außerhalb des Lagers zu berichten!

Aus diesem Grund werde ich in dieser Mail den Namen unserer NGO nicht nennen. Wer etwas sinnvoll spenden möchten, bekommt von mir Adresse und Bankverbindung gerne auf private Nachfrage.

Ich hoffe, Euch mit diesem Kurzbericht nicht zu sehr geschockt zu haben, grüße Euch alle herzlich und wünsche schöne Frühlingstage!

Martin Binder

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