6 Endlich Bretagne 2019 – Gris

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Wie faszinierend. Als ich vorhin durch die Terrassentür auf das Meer blickte, gähnte mir ein riesiges Loch entgegen. Himmel, Meer, Strand – alles präsentierte sich in einem einheitlichen Grau in Grau. Also gris sur gris. Es sah so aus, als ob jegliche Konturen verwischt waren, keine Kanten, kein Land, kein Unterschied zwischen Himmel und Meer erkennbar waren. Nur ein universeller Grauton schaute mich gräulich und garstig an. Durchaus vorstellbar, dass plötzlich Gnome und Feen aus diesem riesigen farblosen Nichts hervorspringen und sich gegenseitig durch die Lüfte jagen könnten? Die Bretonen sollen ja mystisch sehr stark angehaucht sein. Bei solchen Naturphänomenen – womöglich sogar noch bei gigantischen Stürmen, bei denen die Wassermassen riesig hohe, bedrohliche Wellen gegen die Felsenküste schlagen – dürfte das kein Wunder sein. Allerdings hat sich innerhalb der vergangenen Minuten die Sicht hier vor dem Fenster schon wieder stark verändert. Die Wolken sind deutlich hellgrauer geworden, das Meer scheint die dunkleren Töne aus dem Himmel in sich aufgesogen zu haben. Die Fernsicht reicht deutlich weiter als eben noch, die Landmassen sind wieder erkennbar. Und irgendwie scheint es so, als ob die Sonne sich in Kürze durch die noch geschlossene Wolkendecke kämpfen wollte. Hier in der Bretagne ist das beständige Wetter offensichtlich stets nur von kurzer Dauer. Im Minuten-, wenn nicht gar Sekundentakt verändert es sich. Man kann regelrecht dabei zusehen. Wie herrlich.

Und ich – ich genieße. Die Ruhe. Das Lesen. Das Schreiben. Das Hinausschauen aufs Meer. Und dabei die Gedanken fliegen zu lassen. Wo auch immer sie mich hinführen mögen.

Von Genießen konnte jetzt eine ganze Weile keine Rede mehr sein – meine Gedanken haben mich auf Abwege geführt. Wir sind vorhin zum Bäcker und zum Supermarkt gefahren, denn wir hatten ja heute Morgen kein Brot, kein Baguette gekauft, uns fehlte also das Vesper. Als wir im Intermarché waren, regnete es draußen aus dunklen grauen Wolken. Bei der Rückfahrt zeichnete sich dann plötzlich ab, dass bei uns am Strand die Sonne scheinen würde. Verrückt. Ebenfalls auf der Rückfahrt bemerkten wir, dass mehrere Wasserrinnsale innen an der Windschutzscheibe herunterliefen. So ein Mist. Die vor wenigen Wochen neu eingesetzte Scheibe ist offensichtlich undicht. Und das auf einen Schlag, obwohl es doch hier schon mehrfach geregnet hatte. Warum passierte das also ausgerechnet jetzt?

Als wir zurück in der Ferienwohnung gevespert hatten (hier die Vespertüte, die auf den ersten Blick doch aussieht wie ein Fisch) und uns wieder aufs Sofa begaben, sortierte ich die nächste ZEIT-Ausgabe aus, welche Artikel mich interessieren und welche nicht. Wir amüsierten uns noch über ein putziges Foto eines scheinbar grinsenden Igels unter dem Motto „Du siehst aus wie ich mich fühle“, als ich unbewusst, aber doch irgendwie sehr gezielt einen von elf Beiträgen unter der Sparte „Was mein Leben reicher macht“ las: „In der Abendsonne vor dem Klinikum. Ich winke einer Palliativpatientin zum Abschied zu. Sie: Haben Sie ein freies Wochenende? Ich: Ja. Sie: Dann halte ich bis Montag durch!“ Diese wenigen Zeilen haben mich direkt zurück in die Filderklinik katapultiert. Zurück in die Zeit, als Ellen, meine erste Frau, dort lag. Auf der onkologischen Station. Als solche Dialoge zum Alltag gehörten. Als das Sterben ganz nah war. Als die Angst, der tägliche Kampf um Zuversicht, um Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft wesentlicher Bestandteil meines und Ellens Daseins war. Was für eine verrückte, dramatische, traumatische und schlimme Zeit. Und ich befand mich auf einen Schlag, von einer Sekunde zur anderen wieder mittendrin. Tränen rannen mir die Wangen hinunter, die Verzweiflung von damals hatte mich wieder eingeholt und Besitz von mir ergriffen. Wenn auch glücklicherweise nur kurz.

Denn: Wie gut, dass Bine neben mir sitzt. Wie gut, dass sie mich in den Arm nimmt. Dass sie meine Gefühle so stehen lassen kann. Dass sie nicht dagegen anredet, versucht, mir diese Trauer, diese traumatischen Erlebnisse auszureden. Wie gut, dass sie mich einfach hält. Mich aushält, mich ertragen kann. Wie gut auch, dass ich mit ihr eine Person gefunden habe, bei der ich den Mut fand, den Kasper zu spielen. Faxen zu machen. Lauthals „Wenn die bunten Fahnen wehen“ zu singen. Oder am Strand den sterbenden Schwan zu geben.

Wie schön, dass wir zusammen Spaß haben  und zusammen in aller Öffentlichkeit Blödsinn machen können. Was für eine Freude das ist. Früher hatte ich mich das nie getraut. Auch bei und mit Ellen nicht. Da waren meine Minderwertigkeitskomplexe noch viel zu groß. Wie schön, dass ich einen Großteil davon ablegen konnte.

Heute Morgen hatte ich eine Mail erhalten, von der Reutlinger Asylpfarrerin. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich leider zu einer Veranstaltung zu den europäischen Grenzen mit den Reutlinger Bundestagsabgeordneten Mitte nächster Woche noch nicht wieder zuhause wäre. Ich sandte Grüße aus der Bretagne, sie antwortete: „Herzliche Grüße an den Amiral in Concarneau (ich bin Dupin-Fan).“ Wie nett. Ich schrieb zurück: „Wir waren gestern in Concarneau, haben im Amiral Dupin leider nicht gesehen und uns deshalb mehr mit der ville close gegenüber beschäftigt.“

Hier noch unser Glückwunsch-Hochzeitslied für Mikes Ex-Mann, der diese Tage seine Kerstin ehelicht. Unser Lied haben wir frei zu dem Text von „Wenn die bunten Fahnen wehen“ getextet:

Wenn die Kirchenglocken läuten,

geh’n sie hin vor den Altar.

Und da sagen Mike und Kerstin

Deutlich zueinander Ja.

Hört ihr den Jubel,

seht ihr der Gäste Freud‘

feiern sie zusammen bis weit in die Nacht.

 

Wir sind hier in der Bretagne,

seht nur dieses tolle Land,

und wir sind hier mittendrinnen,

gleich am Meer, am schönsten Strand.

Hochzeitsreise

Ist so magisch hier am Ort,

bleiben jetzt hier, wollen nicht mehr fort.

 

Doch leider geht auch das  zu Ende,

müssen bald schon wieder heim.

Senden euch jetzt viele Grüße

Feiert schön, mit gutem Wein.

Wünschen alles Gute,

schön, dass Ihr euch auch was traut.

 

Zieht nur keine Schnute, wenn’s mal nicht so läuft.

Wenn die bunten Fahnen wehen,

geht die Fahrt wohl übers Meer.

Können die Bretagne sehen,

fällt der Abschied uns bald schwer.

Leuchtet die Sonne,

ziehen die Wolken,

klingt unser Lied weit übers Meer.

Und noch eine Strophe:

Wenn die bunten Glocken läuten

Wird’s uns blümerant im Kopf,

können schöne Dinge sehen,

zaubern Hasen aus dem Topf.

Seht wie sie feiern,

Wein und Weib und auch Gesang.

Prosten euch zu, alles ist im Gang.

Wir haben dazu ein Video aufgenommen, das hat unglaublich Spaß gemacht, und dann an unsere Heimat versandt.

 

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