Stationenparcours zum Sicheren Hafen Baden-Württemberg am Freitagnachmittag auf dem Reutlinger Marktplatz. Reges Interesse und viel Zuspruch
Derzeit leben nach der Aussage der Reutlinger Seebrücke rund 27 000 Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln, 7500 davon allein auf Lesbos. Etwa 2000 Menschen sitzen im nördlichen Grenzgebiet von Bosnien-Herzegowina fest, auf den Kanarischen Inseln sind es um die 20 000 Menschen Geflüchtete. Und all das „unter unvorstellbaren Bedingungen im Schmutz in der Kälte bei bis zu minus 16 Grad, ohne funktionierende Wasserversorgung, zum größten Teil ohne medizinische Hilfe, ohne Schutz vor Infektionen mit dem Coronavirus“. Diese Daten haben Aktive der Seebrücke zusammen mit Asylpfarrerin Ines Fischer am Freitag auf dem Reutlinger Marktplatz verteilt. Anlass war die Aktionswoche zum Landesaufnahmeprogramm „Sicherer Hafen Baden-Württemberg“.
Ein einzelner Stuhl deutete auf Reutlingens Marktplatz darauf hin: „Wir haben Platz in Baden-Württemberg und in Reutlingen.“ Damit wird laut Asylpfarrerin Ines Fischer ausgedrückt, dass sich im ganzen Land mittlerweile 31 Kommunen zum Sicheren Hafen erklärt haben. „Diese Kommunen vertreten eine Bevölkerung von rund 3,4 Millionen Einwohnern und damit mehr als 30 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg“, betonte Fischer am Rande des Stationenparcours. Die einzelnen Ausstellungsstücke sind von Aktiven der Reutlinger Seebrücke gestaltet worden und symbolisierten all die Fluchtwege, auf denen Menschen versuchen, nach Europa zu kommen: Durch die Wüste, „in der viermal so viele Menschen bei der Flucht ums Leben kommen als auf dem Mittelmeer“, so Fischer.
Weitere Stationen standen für das Mittelmeer, die Flüchtlings-Balkanroute und Griechenland (mit einem Zaun und einem kaputten Zelt). „Was? Auf Lesbos gibt es 37 Dixie-Klos für 7500 Geflüchtete? Das ist doch unmenschlich“, sagte ein Betrachter der ausgestellten Fotos und Kurz-Statements auf dem Marktplatzboden. Darauf zu lesen war etwa: „Wo soll ich schlafen, wenn alles überflutet ist?“ Oder: „Wie soll ich meine Kinder vor Rattenbissen schützen?“ Und auch: „Wie soll ich diese Hölle meinem Kind erklären?“ Zwischen diesen erschütternden Aussagen über die Situation in den Flüchtlingslagern – egal, ob auf den griechischen Inseln, auf der Balkanroute oder auch auf den Kanaren – lagen immer wieder Blätter mit dem simplen Satz: „Wir haben Platz.“ Und damit stellt sich die Seebrücke eindeutig gegen Bestrebungen, die es laut Ines Fischer im Moment in der EU gibt: Ein „Pakt für Asyl und Migration“ sei geplant, das Parlament müsse den aber erst noch beschließen.
„Damit würde das, was jetzt an den europäischen Grenzen geschieht, legalisiert und verfestigt“, so die Asylpfarrerin. Die Lager sollen demzufolge als „Transitzonen“ behandelt werden, die eigentlich nicht zu Europa gehören. Menschen, die keine Bleiberechtsaussicht haben, sollen sofort wieder abgeschoben werden – ohne jegliche Möglichkeit, dagegen zu klagen. Und das Asylrecht? „Sollte der Pakt beschlossen werden, könnten ganz viele Geflüchtete ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen“, so die Asylpfarrerin. „Der Pakt ist noch nicht in Kraft, aber die Lager an den Außengrenzen werden schon gebaut – auf Lesbos mitten im Wald, wie Martin Binder weiß. Auch er hält den EU-Pakt für katastrophal. „Einige im Parlament sagen, so eine Vereinbarung geht gar nicht, andere meinen, dass die Maßnahmen noch lange nicht scharf genug sind“, so Fischer.
„Die Situation in Bosnien ist noch übler als die auf Lesbos“, sagte Binder, der als Reutlinger Arzt kommenden Donnerstag erneut in den Flieger nach Lesbos steigt. Im vergangenen Jahr war er bereits einigen Monate dort, um zu helfen. Über die Organisation „Medical Volunteers International“, für die er nun erneut in den Flieger steigt, weiß er, dass Geflüchtete an der bosnischen Grenze zu Kroatien, denen die Flucht über den nahen Fluss gelang, auf der anderen Seite alles genommen wurde. Sogar die Kleidung. „Und dann werden sie nackt wieder über den Fluss zurückgejagt.“ Helfer könnten nur nachts zu den Flüchtlingen gelangen, indem sie mit Taschenlampen die Hilfsbedürftigen aufsuchen – weil die Hilfe von Staats wegen verboten ist.
Die Aktionswoche, die in Reutlingen vergangene Woche lief, war mit einem Aufruf gestartet, die hiesigen Landes- und Bundespolitiker wegen der unbeschreiblichen Zustände in den Lagern an europäischen Grenzen anzuschreiben. Laut Markus Groda von der Seebrücke kamen nicht mehr als lapidare Antworten zurück: „Alle zeigten sich sehr bestürzt, die Situation sei ganz schlimm, aber sie könnten nichts tun, sagen alle.“ Immerhin, so Fischer, „steht im Wahlprogramm der Grünen das Landesaufnahmeprogramm mit drin“.