Endlich Urlaub. Endlich Bretagne. Lange haben wir warten müssen, bis wir endlich in den heiß ersehnten Urlaub durften. Ein wenig Bammel hatten wir ja schon vor der langen Fahrt. 1200 Kilometer lagen da vor uns. Und wir – meine Frau Bine und ich (seit dem 6. Juli 2019 sind wir verheiratet) – haben uns am vergangenen Samstag sozusagen auf Hochzeitsreise begeben, auch wenn wir darauf noch fast zwei Monate hatten warten müssen. Mitten in der Nacht um 4 Uhr wollten wir losfahren. Es wurde dann kurz vor halb 5. Aber immerhin. Die ersten drei Stunden fuhr ich. Im Dunkeln. Auf deutschen Autobahnen. Und auf Landstraßen in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Gleich bei Stuttgart hatte ich die richtige Autobahnauffahrt verpasst. Ansonsten ging aber alles ganz gut. Trotzdem war ich froh, als Bine sich ans Steuer setzte. Und ihr gefiel wider Erwarten das Autofahren so gut, dass sie das Steuer gar nicht mehr losließ. Also bis auf die Pausen, die wir einlegten.
„Soll ich weiterfahren“, fragte sie sogar als es auf Paris zuging. Und Paris ist wirklich eine große Herausforderung. Eine Tortur. Mit Stau und unübersichtlichen Ausschilderungen, die einen zur Verzweiflung bringen können. Ohne Navi nicht zu machen. Dachten wir. Dabei hatten Freunde von uns das ganz ohne geschafft. Nur mit Landkarten. Und wahrscheinlich Nerven aus Drahtseilen. Wir hatten uns trotz Navi immerhin nur einmal verfahren, aber ziemlich schnell wieder die richtige Autobahn gefunden. Von wegen, dachte ich da, „um Paris rum immer nur A10 und A11 folgen“, wie Mike, Bines Exmann, uns das erzählt hatte. Oder: „Immer Richtung Rennes oder LeMans fahren.“ Wenn wir diese weisen Ratschlägen befolgt hätten, wer weiß, wo wir gelandet wären. Womöglich in Istanbul. Denn weder die A10, A11, noch Rennes oder LeMans standen an entscheidenden Gabelungen auf dem Schildern. Wie auch immer. Wir haben’s geschafft. Und das sogar trotz der Erkenntnis, dass französische Autofahrer gar nicht so zahm sind, wie wir dachten. Also im Vergleich zu den deutschen. „Auf deutschen Straße herrscht Krieg“, waren wir vorher der Überzeugung. Wenn man das so bezeichnet, dann gibt es auf französischen Straßen sehr wohl auch einige Krieger, die anderen den Fehdehandschuh entgegenwerfen. Die rücksichtslos auf unübersichtlichen Strecken trotz Gegenverkehr überholen. Die genauso wie bei uns Tempobegrenzungen als Beschneidung der Männlichkeit ansehen. Und trotz aller Risiken und Bedrohungen ist Bine super gefahren. Sehr souverän. Und das für die restlichen 10,5 Stunden unserer Mammutfahrt. Bist du nicht müde, fragte ich immer mal wieder. „Nö“, sagte sie. Also gut, dachte ich. Denn ich war unheimlich müde.
Als wir dann in dem Ort namens Plomodiern ankamen, der in den kommenden drei Wochen unser Zuhause sein sollte, gingen wir zunächst einkaufen. Denn: Wir mussten ja schließlich noch für den Gutenacht-Schluck einen Wein besorgen. Um 18 Uhr sind wir rein in den Supermarkt, der hier Intermarché heißt. Was wir dort nach 13,5 Stunden Fahrt als erstes lernten: Geduld. Die Schlangen vor den Kassen waren elend lang. Und all die anderen Kunden (unter denen einige Touristen waren, direkt vor uns sogar ein Rentnerehepaar aus Stuttgart) hatten wohl genauso wie wir gleich für die ganze kommende Woche eingekauft. „Ade“, sagten die Stuttgarter dann schelmisch zu uns, als sie endlich an der Kasse vorbei waren. „Bleibet schee“, sagte ich. Die Frau wollte sich gerade abwenden, da rief sie die Kassiererin zurück: „Un moment, madame“, sagte sie. Mit einer Münzrolle schlug sie auf den Kassenrand ein, die Rolle widersetzte sich. Als die Kassiererin dann endlich ein paar Münzen aus der Rolle in die Kasse hatte klimpern lassen, reichte sie der Stuttgarterin genau zwei Cent. Dabei lächelte sie entschuldigend, weil es doch etwas länger gedauert hatte.
Vom Supermarkt-Parkplatz aus hatte Bine die Vermieterin, Isabell, angerufen. Wir seien jetzt in der Nähe und würden in einer halben Stunde vor der Wohnung auftauchen. Isabell erzählte irgendwas, dass ihr Mann uns eigentlich empfangen wollte, aber nun doch keine Zeit hätte. Ein enveloppe, also einen Umschlag mit dem Schlüssel habe er irgendwo hinterlegt. Wo? „Keine Ahnung“, sagte Bine. Wir würden ihn schon finden, meinte meine mir Angetraute. Ich hatte Zweifel.
Als wir dann zumindest das Haus mit der Ferienwohnung gefunden hatten, standen wir vor einer verschlossenen Eingangstür. Und nun, fragte ich. Bine rief die Vermieterin wieder an. Die erzählte viel, allerdings verstand Bine wenig davon. Irgendwann, nachdem sie es mit einem berauschenden Gemisch aus Französisch, Englisch und Deutsch versucht hatte, reichte sie mir der Verzweiflung nahe den Hörer. Voller Zuversicht sagte ich: „Je m’appelle Norbert“, also dass ich Norbert heiße. Danach war ich allerdings auch mit meinem Französisch schnell am Ende. Sie erzählte mir irgendwas von den Schlüsseln, ich verstand nur Bahnhof und schaute verständnislos auf den Bund, an dem sich eine Art Chip, ein Plastikdrückteil und ein einziger Schlüssel befanden. Ein Herr kam aus dem Haus und fragte, ob er helfen könne. Er sah, dass wir nicht ins Haus kamen, zog einen eigenen Plastikchip, hielt ihn vor ein Feld unterhalb der Klingeln und wie auf ein Wunder hin, ließ sich die Tür öffnen. Ich sprach ins Telefon, dass „un monsieur nous avait aider, il est un magicien“. Meinem Sprachverständnis nach hätte das heißen sollen, dass uns ein Herr geholfen hat, der ein Zauberer sein müsse. Ob dieser Satz dem wirklich auch nur annähernd entsprochen hatte, weiß ich nicht.
Als wir dann auch noch die Wohnung gefunden hatten, blieb uns erstmal der Mund vor Staunen offenstehen, nachdem wir die Tür öffneten: Sonnenlicht durchflutete den Raum, der aus Küche, Ess- und Wohnraum gleichzeitig bestand. Am anderen Ende des Raumes zeigte sich eine große Fensterfront, hinter der eine Terrasse zu sehen war. Und dahinter wiederum folgte sogleich der berauschende Blick aufs bretonische Meer. Der Atlantik. Mit einem tollen Strand davor. Das hieß also für die kommenden drei Wochen – Sonnenuntergang jeden Abend live über den Küchentisch. Wahnsinn. Also zumindest solange das Wetter mitspielt. Und bisher hat es das getan. Bis auf ein paar Regentropfen bei unserem ersten Strandausflug am Sonntag. Wenige Minuten später hatte sich die Regenwolke wieder verzogen. Dabei dachten wir kurz vor unserer Ankunft: „Ohje.“ Heftige Regenschauer erwarteten uns rund eine Stunde vor unserer Ankunft in Plomodiern. Da hatten wir noch gemunkelt, dass dies nun die Schlechtwetterfront sein würde, die zumindest in unserer Heimat den Herbst ankündigen sollte. Davon haben wir hier jetzt aber bislang gar nichts gemerkt. Drei Tage herrlichstes Wetter. Sehr angenehme Temperaturen, 19 Grad im Schatten, die aber in der Sonne immer noch sehr angenehm warm erscheinen. Toll.
Gestern waren wir in Locronan. Ich kann mir die Ortsnamen nicht merken. Bis auf Brest vielleicht. Das ist die wohl größte Stadt hier in der Umgebung, interessiert uns aber nicht wirklich. Locronan hingegen sehr. Ein herrlich mittelalterlich wirkendes Örtchen, das natürlich touristisch völlig überladen ist, mit Dutzenden Touri-Läden. Mit Keks-Shops, ein anderer mit 199 Biersorten, die vermeintlich alle in der Bretagne gebraut sein sollen. Weitere Läden boten Klamotten an. Oder hübsche Tassen,
die natürlich alle mit dem Triskell verziert sind. Also mit dem Dreizack, der aber gar nicht drei Zacken, sondern drei Kringel zeigt. Überall in der Bretagne ist das Zeichen zu sehen. Es steht für Erde, Wasser und Feuer, sagen die einen. Oder für den Schlaf, die Träume und das Aufwachen, behaupten andere. Oder für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oder … mag sich doch jeder was eigenes aussuchen, dachte ich. Wenn sich die Bretonen schon nicht einig sind.
Schön sind die Tassen aber trotzdem. Und damit ziehe ich mit Luka, Bines Sohn, nahezu gleich, der sich im vergangenen Jahr ebenfalls zwei Tassen mit dem Triskell gekauft hatte. Er war mit seinem Vater und dessen neuer Partnerin sowie ihren zwei kleinen Mädchen in der Bretagne. Luka kaufte sich die Tassen, um Cidre draus zu trinken. Richtig stilecht. Für Kaffee eignen sich diese Tassen allerdings nicht, weil ein Heißgetränk in solch einem breiten Gefäß ja sofort kalt würde. Deshalb habe ich mir auch ganz schmale, hohe Tassen gekauft. Da bleibt der Kaffee deutlich länger heiß. Zumindest bin ich der festen Überzeugung, dass das so ist. Dass dem so sein muss. Auch wenn meine Tassen ein wenig wie Blumenvasen aussehen. Na und? Dann trinke ich meinen Kaffee halt aus Blumenvasen. Macht sonst bestimmt niemand.
Ansonsten waren in Locronan also jede Menge alte Steinhäuser zu bestaunen, die hübsch anzusehen sind. Aber wie Bine es formulierte: „Da würde mich schon interessieren, wie die Menschen hier im Mittelalter drin gelebt haben.“ Ohne fließendes Wasser, ohne Toilette im Haus, wahrscheinlich mit den Viechern im Erdgeschoss, die dann den Raum darüber zumindest mit ihrer Körpertemperatur wärmten. „Das muss tierisch gestunken haben“, dachte und sagte ich.
Heute waren wir am Point Penn-Hir. Wusste ich jetzt schon wieder nicht mehr, obwohl wir erst vor einer Stunde zurückgekehrt sind. Ich musste Bine fragen. Auf jeden Fall ist das eine extrem steinige Küstenlandschaft, die im Zweiten Weltkrieg wohl sehr umkämpft war. Bunker und ein riesiges Mahnmal erinnern daran. Und die sehr zerklüfteten Felsen und Felsbrocken sehen so aus, als ob sie irgendjemand dort aufgehäuft haben muss. Manche erinnern sogar an aufeinandergelegte Pfannkuchen. Wie die Pancake-Rocks auf der neuseeländischen Südinsel.
Fast hätte ich’s vergessen: Bevor wir heute morgen losgefahren sind, bemerkten wir gleich zwei extrem unangenehme Ereignisse – zum einen hatte sich wohl bewahrheitet, was Bine gestern schon bemerkt hatte. „Wir haben wohl eine oder mehrere Mäuse in der Wohnung.“ Im Schrank unter der Spüle fand sich nämlich erneut Mäusekot. „Wir müssen eine Mäusefalle kaufen“, lautete die Konsequenz. Und das Zweite: Ab 10 Uhr hatten wir kein Wasser mehr in den Leitungen. Beim Blick aus einem Fenster sah ich auf der Straße einen Bagger, der dort ein Loch grub. Ob Bagger und fehlendes Wasser was miteinander zu tun hatten? Anstatt zu dem Baggerfahrer zu gehen, sprach ich unsere Nachbarn an: „Pas d’eau“, sagte die Frau sogleich. Kein Wasser? Oui, oui, bemühte ich mich zu sagen. Ihr Mann erschien, erzählte irgendwas, was ich nicht verstand. Ich sagte erneut: Oui und zog mich zurück. Gar nicht so einfach, sich nach 40 Jahren wieder seiner mageren Schul-Französisch-Kenntnisse zu erinnern. Hoffentlich haben wir heute Nachmittag wieder Wasser, dachten wir nur, bevor wir zum Point Penn-Hir fuhren. Dieser Punkt befindet sich übrigens auf der Halbinsel Crozon. Und Halbinsel heißt auf französisch: presqu’ile. Also grob übersetzt: fast-Insel.
Auf dem Weg zu der presqu’ile hielten wir bei einem Baumarkt. Um eine Mausefalle zu kaufen. Bine hatte sich kundig gemacht: Maus heißt souris, Mausefalle souricière. Als Bine in dem Markt nach solch einer souricière fragte, schaute der Verkäufer uns verständnislos an, auf souris reagierte er dann. Lebendfallen gab es nicht. Nur für Ratten. Und solche Fallen wären doch etwas zu groß für die kleinen Tierchen, dachten wir. Ansonsten gab es nur die klassischen Mausefallen, die mit dem Käse drauf, das arme Tierchen setzt einen Fuß auf den Auslöser und wird – zack – quasi geköpft.
Oder erschlagen. Oder wie auch immer. Eine andere Methode wäre, Gift in ein Plastikdings zu geben, die Maus fresse das, entferne sich und sterbe andernorts, wie uns der Verkäufer zu erläutern versuchte. Was für eine rücksichtsvolle Sterbemethode – für die Menschen. Wir entschieden uns für die Guillotine-Methode. Und sind nun sehr gespannt, ob morgen früh tatsächlich eine Maus in der Falle zu finden ist – die Falle heißt im Übrigen, wie passend, Lucifer. Und das Wasser? Das war glücklicherweise, als wir zurückkamen, wieder in den Leitungen und ließ uns tief durchatmen. „Wie abhängig wir von fließendem Wasser sind, merken wir erst, wenn wir es nicht mehr haben“, versicherten wir uns gegenseitig.