Wieder wie ein Mensch behandelt werden

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Thomas van Hout verkauft regelmäßig in der Reutlinger Fußgängerzone „Trott-war“ und Helmut Schmid berichtet als Chefredakteur über die Stuttgarter Straßenzeitung

Thomas van Hout ist in der Reutlinger Wilhelmstraße schon seit ein paar Jahren so was wie eine Institution – viele kennen ihn, viele sind ebenso freundlich, wie der 59-Jährige selbst es ist, manche kaufen ihm eine Ausgabe von Trott-war ab, reden mit ihm, sprechen ihm Mut zu oder sagen auch, dass sie sein Engagement beim Zeitungsverkauf gut finden. Aber: „Es gibt auch die anderen“, gesteht van Hout. Eine Frau im Pelzmantel etwa, die zu ihm sagte: „Aber für Zigaretten reicht das Geld, oder?“ Und ein paar andere Äußerungen von Passanten, die sagten: „Hättest du was Ordentliches gelernt.“

Doch Thomas van Hout hat sogar zwei Berufe gelernt: „Ich bin Orthopädiemechaniker und Erzieher.“ Geboren wurde er in Essen, im Ruhrgebiet, sein Vater war Industriebodenverleger. Der Lebenslauf des 59-Jährigen hört sich mehr oder weniger völlig normal an, bis zu dem Punkt hin, als es ihm „den Vogel rausgehauen hat“. Er war verheiratet, hatte drei Kinder und arbeitete als Erzieher, „vielleicht war es Burnout, ich kam mit der Situation nicht mehr klar“, sagt er heute. „Ich habe schlichtweg versagt.“ Thomas van Hout hatte zuvor schon ein Alkoholproblem, „das hat sich dann verfestigt“. Er nahm sich eine eigene Wohnung, nach einem Jahr Trennung kam die Scheidung „und dann war ich ganz verloren“. 1996 war das, also heute vor rund 25 Jahren. Seitdem ging’s bergab. Damals lebte er in Pforzheim, als Erzieher konnte und durfte er wegen seiner Alkoholprobleme nicht mehr arbeiten. Er schlug sich mit Aushilfsjobs durch, landete irgendwann auf der Straße. „Im Sommer war das fast wie Zeltlager“, sagt er und schmunzelt. Mit anderen Wohnsitzlosen hatten sie sich gemeinsam mit Planen eine Art kleines Zeltlager gebaut.

„Bei 40 Grad hätte man es in einer Wohnung nachts eh nicht ausgehalten“, sagt er mit einer Portion Galgenhumor. Irgendwann ist van Hout dann „mit Schaustellern rumgezogen, ich wurde nicht bezahlt und bin dann in Reutlingen ausgestiegen“, berichtet er. Rein zufällig wurde sein neuer Lebensmittelpunkt also die Achalmstadt. Seine Stationen hier: Notübernachtung in der Glaserstraße, dann Erfrierungsschutz, dann eine Zweier-WG. „In der Zeit war ich mal wieder trocken und habe eine eigene Wohnung gekriegt.“ Im vergangenen Jahr ist er seine zweite Langzeittherapie angegangen, 20 Wochen dauerte die. Die Zeit war nicht einfach, neben dem körperlichen Entzug ging es bei ihm auch um Depressionsbewältigung. „So eine Therapie geht schon an die Substanz“, sagt Thomas van Hout. Doch er macht nun einen ganz zufriedenen Eindruck.

Die Wohnung in Orschel-Hagen gefällt ihm, in den Beeten vor und hinter seinem kleinen Reich will er das kommende Frühjahr Blumen und Gemüse anpflanzen. Und mit dem Verkauf von „Trott-war“ verdient er sich ein paar Euro dazu, die seinen Hartz-IV-Satz von 446 Euro etwas aufbessern. Zum Zeitungsverkauf kam er über die Reutlinger AWO, dort hatte er gehört, dass es diese Möglichkeit gibt. Pro Exemplar zahlt er 1 Euro 30 und verkauft die Zeitung dann für 2 Euro 60 weiter. So wie Thomas van Hout machen das in Stuttgart (und in rund 20 weiteren Städten im Südwesten Deutschlands) etwa 170 Verkäufer, berichtet Helmut Schmid als Chefredakteur und Mitgründer von Trott-war. „Die meisten der Verkäufer sind freie, in Stuttgart haben wir etwa zehn fest angestellt“, so Schmid.

Helmut Schmid war einst im Feuilleton bei der Süddeutschen Zeitung, dann bei den Stuttgarter Nachrichten, als er gefragt wurde, ob er sich solch eine Straßenzeitung, wie es sie in Hamburg und Berlin schon gab, nicht auch in Stuttgart vorstellen könnte. Er konnte, entwarf ein Konzept für „Trott-war“, machte alles zunächst ehrenamtlich, doch schon bald wuchs ihm das Ganze über den Kopf. Er wurde fest angestellt, verdiente seinen eigenen Worten nach, nur noch einen Bruchteil von seinem vorherigen Gehalt. „Aber ich habe es seit 26 Jahren nicht bereut.“ Die Unabhängigkeit „seiner“ Zeitung ist ihm wichtig, öffentliche Gelder hat er immer abgelehnt. „Weil wir dann nicht mehr unabhängig wären – wir sehen uns als Lobby für die Benachteiligten.“ Und er habe sogar schon gegen die Stadt Stuttgart prozessiert – „und gewonnen“. Für Schmid und die wenigen Festangestellten sei es auch einfach ein gutes Gefühl, wenn sie Menschen auf der Straße vom Betteln zum Verkäufer bringen. „Dann werden die Obdachlosen zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder wie Menschen behandelt“, weiß Helmut Schmid.

So ähnlich ging es auch Thomas van Hout in Reutlingen. An eine feste Stelle ist mit seinem Verkauf aber nicht zu denken – nur wer drei Monate mehr als 500 Exemplare von „Trott-war“ verkauft, kann als fester Verkäufer angestellt werden. „In Reutlingen sei das illusorisch, ich hole mir gerade monatlich 30 Exemplare“, sagt van Hout. Weil er die nicht verkauften Zeitungen am Monatsende auch zurückgeben kann und dafür ebenso viele neue Ausgaben erhält, macht er keinen Verlust. Konkurrenz kennt er nicht, er teilt sich das „Revier“ Wilhelmstraße und Katharinenstraße mit drei anderen Kollegen. Die sind aus Tschechien, „nette Menschen“, wie van Hout sagt.

Solche Zeiten wie in Pforzheim, als er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, in alkoholfreien Zeiten auch mal mit Fahrerjobs, will er aber nicht mehr erleben. „Richtig was reißen werde ich mit knapp 60 wohl nichts mehr.“ Doch er sei „ein bescheidener Mensch, ich wollte nie Prestigeobjekte haben“ – doch dann fällt ihm ein Traum ein, den er schon lange hegt: „Ich würde unglaublich gerne mal einen Jaguar E, Baujahr 1961, fahren“, sagt er und lacht. „So wie Jerry Cotton.“ Ansonsten sei er zufrieden, „ja, klar, könnte es besser sein“. Ein Computer und die monatlichen Gebühren für einen Anschluss wären schon gut, sinniert er. Und eins noch: „Alle Hausbesitzer sollten sich mal ‚Trott-war‘ kaufen, damit sie erkennen, dass Großgrundbesitz zu Wohnungslosigkeit führt“, betont er kämpferisch. Einen Werbespruch für „Trott-war“ hat er auch noch parat: „Die Zeitung ist unbestechlich, aber käuflich.“

INFO:

„Trott-war“ – ein soziales Projekt

Während Thomas van Hout in Reutlingen momentan gerade mal 30 Exemplare der Straßenzeitung verkaufen kann, ist „Trott-war“ in Stuttgart viel mehr: „Hier sind wir für viele Familienersatz“, sagt Chefredakteur und Mitgründer Helmut Schmid. Momentan gibt es zehn festangestellte Zeitungsverkäufer, dazu noch zehn weitere in anderen „Trott-war“-Engagements. Dazu zählen ein Theater- und ein Kunstprojekt sowie eine Online-Kunstgalerie, alternative Stadtführungen, ein Pfandprojekt am Stuttgarter Flughafen, kostenloses Frühstück für die Verkäufer und sogar eine eigene Grabanlage auf dem Hauptfriedhof. Hinzu kommt noch ein Haus, das der „Trott-war“-Verein gekauft hat, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. „Ungefähr die Hälfte unserer jährlichen Ausgaben von 1,25 Millionen Euro kriegen wir über den Verkauf der Zeitungen wieder rein“, sagt Helmut Schmid. Rund 35 Prozent seien Spenden, „in Corona-Zeiten ist das deutlich mehr, aber wir hatten im vergangenen Jahr auch rund 350 000 Euro weniger an Einnahmen“, betont Helmut Schmid.

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