Schneckenstau am Stängel

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Dieses Foto hat Luka, der Sohn meiner Angetrauten, am 31. August 2018, also vor gut zwei Jahren, in der Bretagne beim Urlaub mit seinem Vater und dessen Familie „geschossen“. Ein unglaubliches Bild, das zum einen eindrücklich beweist, dass Luka, der damals 17 Jahre alt war, einen Blick für Details, für Kleinigkeiten besitzt. Er hat es wirklich drauf, unglaubliche Fotos zu fabrizieren. Dieses Bild hängt seit langem vergrößert bei uns im Häuschen, denn: Das ist nicht nur eine supergute Aufnahme, sondern stellt zudem auch noch ein seltsames Phänomen dar: Eigentlich müsste man sich doch gleich beim ersten Betrachten die grundsätzliche Frage stellen – warum sind mehr als drei Dutzend Schnecken auf diesen einen Halm geklettert? Auf diese wesentliche Frage bin ich allerdings erst jetzt so richtig gekommen. Während des zweiten Lockdowns, als ich tatsächlich mal wieder so richtig Zeit habe, um mich Nebensächlichem zu widmen. Um mich mit Fragen zu befassen, die nichts mit dem Alltäglichen zu tun haben.

Warum also klettern Schnecken in Scharen auf Halme? Ist eine der kleinen Hausbeisitzer vorausgekrochen, um die gute Aussicht dort oben zu genießen? Und hat dann runtergebrüllt: „Hey, super Blick von hier oben, das müsst ihr euch auch ansehen.“ Das haben dann so viele Kumpaninnen und Kumpane in der Umgebung gehört, dass es zu einem regelrechten Stau am Stengel kam. Blöd nur, dass diejenigen, die etwas später angekrochen kamen, nichts mehr von der Top-Aussicht hatten. Aber so ist das ja immer im Leben – wer zu spät kommt … Aber: Schnecken sehen nicht wirklich besonders gut – wegen der Aussicht sind die also mit Sicherheit nicht da hoch. Eine andere Überlegung: Die erste Schnecke hatte Geburtstag, wollte zum Fest einladen und um sich besser verständlich zu machen … Warum dann alle dort hinauf sind? Hat die Geburtstags-Schnecke gerufen „Freibier für alle“? Vielleicht. Immerhin hat mein Vater früher in seinem Garten Flaschen mit Bier ausgelegt, in denen sich die Schnecken nicht nur betrinken, sondern auch noch ertränken sollten. Ob das tatsächlich gelungen ist, weiß ich nicht mehr. In Wikipedia heißt es dazu: „Der Biergeruch zieht die Schnecken sehr stark an, sie geraten in die Falle und ertrinken.“ Und: „Biersorte und Alkoholgehalt haben keine Auswirkung auf die Funktion einer Falle“, heißt es da auch noch. Auf Lukas Foto hätte die erste Schnecke auf dem Halm dann ein Bierfässchen mit hinaufnehmen müssen, um die Kumpels anzulocken – was sich allerdings dann doch ziemlich unwahrscheinlich anhört.

Mit meinen Überlegungen bin ich also noch keinen Schritt weitergekommen. Was sonst könnte Schnecken bewegen, in Massen auf Halme und Pflanzenstängel zu klettern?  Ein ritueller, gemeinsamer Selbstmord? Um sich selbst ein Denkmal zu setzen, als Opfer der jahrtausendelangen Schneckenverfolgung? Oder sind das womöglich sogenannte „Querdenker“-Schnecken, die aufbegehren gegen Corona-Maßnahmen wie Abstand halten? Ach nee, das Foto stammt ja aus dem Jahr 2018. Also lange vor Corona. Vielleicht pflegen die Schnecken in der Bretagne aber auch einen ganz besonderen Akt der Fortpflanzung? Gruppensex auf Grashalmen? Zur besonderen Stimulation? Und das, obwohl Schnecken doch Zwitter sind? „Aber sie können sich nicht selbst befruchten“, ruft da eine aufdringliche Homepage namens www.weichtiere.at. Naja, denke ich. Österreicher und Weichtiere. Passt das? Außerdem: Wenn man bei dem Foto mal etwas genauer hinschaut, sieht man doch, dass die Schnecken auf dem Halm sich größenmäßig stark unterscheiden. Sehr stark unterscheiden.  Wie sollte das mit dem Schneckengruppensex wohl funktionieren?

Und nun? Es geht noch absurder: Für all die Schnecken war der Halm die Karriereleiter schlechthin. Alle wollten so schnell wie möglich nach oben, haben sich also wortwörtlich „hochgeschleimt“? Was? Vielleicht sollte ich die menschliche Sichtweise mal weglassen? Okay. Ich werfe also doch noch einen Blick auf die österreichische Homepage. Dort steht nämlich, dass sich besondere Schnecken „an Sonnenlicht und Trockenheit noch besser angepasst“ haben: „Wärmeliebende (xerophile) Schnecken trockener Standorte, wie z.B. Heideschnecken (z.B. die östliche Heideschnecke, Xerolenta obvia) oder Zebraschnecke (Zebrina detrita) besitzen ein weißes Gehäuse, das zu Tarnzwecken außerdem dunkle Streifen aufweist. Und so kann man an warmen Tagen ganze Büsche am Wegrand voller kleiner Heideschnecken hängen sehen, die dort ihren Trockenschlaf verbringen.“ Mit ihren zumeist hellen Häusern reflektieren die Schnecken also das Sonnenlicht, sind durch die dunklen Streifen aber dennoch getarnt. Und warum klettern sie nach oben? Um sich vor der noch größeren Hitze am Boden zu schützen, lautet die Antwort. Ihren Ein- bzw. Ausgang verschließen die Schnecken dann mit einer Schleimschicht, sie fahren ihre Körpertätigkeiten radikal nach unten und halten „Sommerruhe“. Oder eben „Trockenschlaf“. Verrückt, oder? Die Frage, warum sie alle zusammen schlafen wollen, ist damit aber noch nicht geklärt. Wahrscheinlich hat die erste doch so was gerufen, wie „Hey, hier ist oben ist’s voll cool.“ Und alle sind hinterhergekrochen.

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