Das Ziel ist Gewaltfreiheit

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Sina Wandel und Florence Wetzel vom Reutlinger Diakonieverband berichten aus ihrer Praxis der Beratung in Fällen von „Häuslicher Gewalt“

„Gerade in diesen Corona-Zeiten sollen die Menschen wissen, wo sie sich hinwenden können, wenn sie Hilfe brauchen“, sagt Stephanie Gohl vom Reutlinger Diakonieverband. Die Beratungsstelle im Fall von Häuslicher Gewalt und nach Wohnungsverweisen sei ein ganz wichtiger Baustein im Angebot des Diakonieverbands. Die Befürchtungen waren auch in Reutlingen groß, dass besonders während des ersten Lockdowns in diesem Jahr die Zahlen der Häuslichen Gewalt drastisch nach oben schnellen. In manchen Bundesländern hatte sich das bewahrheitet, die Zahlen stiegen deutlich an, wie die „Tagesschau“ im Juli meldete. In anderen Bundesländern war hingegen sogar ein rückläufiger Trend zu verzeichnen.

Woran das liegen könnte? „Die Zugangswege waren häufig versperrt“, sagt Florence Wetzel, die zusammen mit ihrer Kollegin Sina Wandel für die Beratungsstelle „Häusliche Gewalt“ beim Reutlinger Diakonieverband zuständig ist. Freunde, Verwandte, Nachbarn, Kindergärten und Schulen wie auch Ärzte haben in den Monaten des ersten Lockdowns keinen Blick auf misshandelte und geschlagene Frauen werfen können. „Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer bei Gewalt in den eigenen vier Wänden deutlich höher ist als vor Corona“, betont Wetzel. „Dazu und auch über psychische Gewalt gibt es Studien – und die besagen, dass eine deutliche Zunahme zu verzeichnen war“, sagt Sina Wandel. Gleiches droht nun wieder, mit dem erneuten Lockdown aufgrund der Pandemie. Und dann kommt ja auch noch Weihnachten, das Fest der Liebe. Bei dem – schon ohne Pandemie – jedes Jahr wieder so manche Auseinandersetzung, so mancher Streit eskaliert. Grundsätzlich gelte, dass Gewalt hinter den Haustüren häufiger anzutreffen ist, wenn Stress die Menschen plagt, dazu womöglich noch Arbeitslosigkeit, zu wenig Wohnraum, kein Geld und keine Perspektiven vorhanden sind.

„Diese Faktoren bedingen Häusliche Gewalt, das heißt aber nicht, dass in reicheren Haushalten keine Gewalt vorkommt – die ist in allen Schichten zu finden“, sagt Wetzel. Und zwar in Ausformungen von körperlicher, sexueller oder auch psychischer Gewalt. Fakt sei zudem, dass in den allermeisten Fällen Männer die Gewalttäter sind. Aber: „Wir werfen einen systemischen Blick auf die Beziehungen“, betont Florence Wetzel. Und das heißt? Die Sozialarbeiterinnen beim Diakonieverband bieten sowohl den Opfern wie auch den Tätern Hilfe an – wobei immer die Sicherheit des Opfers im Vordergrund stehe, wie beide betonen. Paarbeziehungen seien komplex, wenn die Gründe für die Gewaltausbrüche erkundet werden könnten, bestehe auch die Hoffnung auf eine Reduzierung oder gar Vermeidung der Gewalt. Grundsätzlich gelte: „Durch die Not und Hilflosigkeit nach einem Wohnungsverweis sind sowohl Frauen wie auch Männer sensibler und empfindlicher.“ Und die Tatbeteiligten seien offener für Hilfe.

„Häusliche Gewalt ist leider keine Seltenheit, sie betrifft Frauen, Männer und Kinder – aus Scham, Schuld oder Angst bleibt die Gewalt aber meist im Verborgenen“, sind sich Wandel und Wetzel einig. Die Dunkelziffer sei mit Sicherheit extrem hoch. Durchschnittlich melde das Reutlinger Ordnungsamt rund 35 Wohnungsverweise pro Jahr an die Beratungsstelle. Die Sozialarbeiterinnen nehmen dann Kontakt zu den Opfern auf und – wenn die Frauen zu einer Beratung bereit sind – auch zum Täter. Mittlerweile melden sich zudem jährlich etwa 50 sogenannte „Selbstmelder“ in der Planie, die Gewalt in den eigenen vier Wänden erlebt, aber nicht angezeigt haben. Enorm wichtig sei: „Häusliche Gewalt ist keine Privatsache, sondern eine Straftat“, sagt Florence Wetzel. Deshalb gilt auch der dringende Appell der Sozialarbeiterinnen an die Öffentlichkeit, an Nachbarn, Freunde und Verwandte: „Schauen Sie nicht weg, schweigen Sie nicht – sollten Sie akute Gewalt als Zeuge mitbekommen, rufen Sie die Polizei unter 110.“ Was die wenigsten wissen: Auch Zeugen von Häuslicher Gewalt können sich an die Beratungsstelle des Diakonieverbands wenden.

Wichtig sei den Sozialarbeiterinnen, dass sie die Beteiligten von Häuslicher Gewalt „ergebnisoffen“ beraten: Die Trennung von dem Gewalttäter könne eine Lösung sein – müsse aber nicht zwangsläufig im Fokus stehen. „Das Ziel ist immer Gewaltfreiheit“, so Wetzel. Die beiden Fachberaterinnen bieten ein „Case-Management“ an – und das bedeutet, dass „Hilfesuchende bei Bedarf an andere Stellen des Netzwerkes weitervermittelt werden können“, so Wetzel. Aber: Die Frauen oder Männer können auch immer wieder in die Beratungsstelle „Häusliche Gewalt“ zurückkehren. Um den nächsten Schritt gemeinsam zu erarbeiten. Wie immer der auch aussehen mag.

INFO:

Beratung bei Häuslicher Gewalt

 Hilfe bei Häuslicher Gewalt finden Opfer und Täter beim Reutlinger Diakonieverband in der Planie 17 (Tel. 07121-94860, Mail: ). Öffnungszeiten auch zwischen den Jahren außer an den Feiertagen: Montag, Dienstag, Donnerstag 9 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr, Mittwoch 10 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr, Freitag 9 bis 12 Uhr. Hilfe außerhalb von Öffnungszeiten: Das anonyme Hilfetelefon 0800-0116016 auch in vielen Sprachen. Bei akuter Häuslicher Gewalt: Notruf bei der Polizei unter der Nummer 110.

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