Pfälzer Zwerg

0

Manchmal geschehen seltsame Dinge. Wie bei uns vor einigen Monaten in der Pfalz. August war’s, wir waren in Bad Dürkheim, haben einen Freund besucht, der dort gerade zur Kur weilte. Samstags sind wir früh morgens angekommen, hatten zu dritt einen schönen Tag bei brütender Hitze. In der Erinnerung haben wir uns lediglich extrem gemächlich, in einem an die Extremtemperaturen angepassten Schneckentempo vom schattigen Biergarten zum Füße-kühlenden Bach bewegt. Von dort schlichen wir stets Schatten-suchend zum Eiscafé, dann fünf Meter weiter in ein Weinlokal, in dem wir die berühmte Rieslingschorle probierten, um dann noch ein paar Meter weiter einen Döner zum Abendessen zu vertilgen. Zwischendrin besichtigten wir allerdings auch noch eine riesige, temperatur-technisch sehr angenehme Saline (330 Meter lang und zwölf Meter hoch) – wobei Bine und ich vorher keinen blassen Dunst hatten, was es mit diesem Bauwerk auf sich hat. Salzgewinnung, meinte ich. Weil ich irgendwann mal etwas über die Salzsieder in Schwäbisch Hall gehört hatte, wo ja die Salzgewinnung in vergangenen Jahrhunderten für den Reichtum der Stadt gesorgt hatte. Natürlich war das zu einer Zeit, in der Salz noch als seltenes und kostbares Gut galt. In Bad Dürkheim war das vor rund 500 Jahren genauso – ist aber seit 1913 völlig anders, als die Salzgewinnung aufgegeben wurde. In diesem Salinen-Bauwerk sind über die gesamte Höhe und Breite Reisigzweige dicht an dicht aneinandergereiht aufgehängt. Über die Zweige mit all seinen Verästelungen tropft von oben salzhaltiges Wasser hinunter, durch den hindurch wehenden Wind wird dabei sehr salzhaltige Luft versprüht und verspritzt – was sehr gesund sein soll, vor allem für Patienten mit Atemwegserkrankungen. Hinter dieser riesigen Saline stand ein noch riesigeres Riesenrad. Und nicht weit entfernt das größte Fass der Welt, es fasst 1,7 Millionen Liter, wurde 1934 mit 200 Tannen gebaut, die jeweils 40 Meter groß gewesen sein sollen. Wahnsinn.

 

Jaja, in Bad Dürkheim ist fast alles riesig groß. Aber eben auch nur fast. Eher ziemlich klein (auch, wenn es auf diesem Foto anders wirken mag) war nämlich eine Figur, die wir an unserem zweiten Aufenthaltstag in dem pfälzischen Örtchen an einer Laterne sahen: Ein Gartenzwerg war dort mit Draht befestigt worden, der Blick des kleinen Mannes mit weißem Bart und rosa Mütze kam uns aber nicht entgegen, sondern war starr auf einen Gegenstand in seinen Händen gerichtet: Der Zwerg fixierte einen Strohhalm. Also solch einen Plastiktrinkhalm, der doch nun eigentlich verboten sein soll. Warum nur, fragte ich mich. Also warum war der Gartenzwerg dort an einer Laterne wie an einem Marterpfahl mit Draht festgebunden worden? Und warum hielt er einen Strohhalm in der Hand, an den er sich scheinbar in letzter Verzweiflung klammerte? Das war einer dieser seltsamen Momente, die man sich selbst nicht so richtig erklären kann – die aber zu der Vermutung führen, dass mehr hinter diesen scheinbar nebensächlichen Beobachtung stecken könnte, als man im ersten Moment auch nur annähernd denkt.

Warum also nicht mal dem Ganzen etwas auf den Grund gehen? Und versuchen, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Warum also hängt jemand einen Zwerg, der doch normalerweise – wie es der Name schon sagt – in Gärten sein Dasein fristet? In meiner Jugendzeit galt so ein Vorgarten mit Zwergen drin als der Inbegriff der Spießigkeit. Genauso wie Daimlerfahrer, die zu allem Unglück auch noch auf der Hutablage im hinteren Bereich des Fahrzeugs eine Art gehäkelte Kappe liegen hatten, unter der sich wiederum eine Rolle Klopapier verbarg. Und wenn es ganz dick kam, dann vervollständigte auch noch ein Wackeldackel das Grusel-Spießer-Kabinett hinter der Heckscheibe. Diese Zeiten sind längst vorbei, heute trifft man kaum noch auf inhaltlich derart ausgestattete Autos. Nicht, dass es heute keine Spießer mehr gäbe – da wird sogar damit geworben. Von der LBS etwa: „Papa, wenn ich groß bin, will ich Spießer werden“, sagt da ein Mädchen zu ihrem alt-gewordenen Punk-Vater. Und Daimler sowie Mercedes fahren heute junge Menschen ebenso wie Männer mit Hut (noch so ein Spießer-Vorurteil). Könnte es also sein, dass dieser Gartenzwerg an einer Kreuzung in Bad Dürkheim schon seit vier bis fünf Jahrzehnten an der Laterne prangte? Weil der Besitzer damals seine eigene Spießigkeit nicht mehr aushielt und klammheimlich seine Leidenschaft loswerden wollte? Wenig wahrscheinlich. Dann hätte er wohl den Zwerg einfach in der Mülltonne entsorgt. Oder er (vielleicht auch sie) hätte aus lauter Hinterhältigkeit einem jüngeren, linksalternativ-versifften Mitglied der großen Verwandtschaft geschenkt. Der dann wiederum vielleicht den Zwerg an die Laterne …? Oder vielleicht wollte auch ein Nachbar des Gartenzwerg-Spießers die kleinen Männer ganz einfach nicht mehr direkt vor der Nase haben?  Hat im Übrigen schon mal jemand darauf geachtet, dass die Zwerge in den Vorgärten zu mindestens 90 Prozent männlich sind? Auch hier gibt es keine Parität. Genauso wenig wie in den Aufsichtsräten der großen deutschen Firmen. Lassen sich da vielleicht noch weitere Gemeinsamkeiten finden, bei Zwergen und Aufsichtsräten? Vielleicht in Bezug auf die körperliche Größe von Aufsichtsratsmitgliedern?

Doch lassen wir das und kommen wir zurück zu dem Zwerg an der Laterne – der in Übrigen nicht so aussah, als ob er schon seit vier bis fünf Jahrzehnten dort hing. Erstens wäre der Draht dann verrostet gewesen und die nicht mehr knallroten, sondern eher rosa aussehenden Kittel und Mütze sowie vor allem seine knallblaue Hose hätten noch deutlich weniger farbig ausgesehen. Also hängt der Zwerg dort vermutlich erst seit kurzem. Also seit nicht viel mehr als ein paar Wochen. Und warum befestigt heute jemand einen Gartenzwerg an einer Laterne? Um die Menschen, die dort vorbeikommen zu erheitern? Bei mir zumindest ist das gelungen. Oder wollte jemand andere mit dem Zwerg provozieren?

Also ich ganz persönlich vermute ja, dass der Zwerg vor allem in Verbindung mit dem Strohhalm zu sehen ist. Andere mögen behaupten, dass irgendjemand dem kleinen Mann den Trinkhalm nachträglich in die Hände gespielt hat – ich aber sage: Der kleine Mann klammert sich ja nicht nur mit seinen Händen an dem Halm fest, sondern auch und vor allem mit seinen Augen. Er greift sinnbildlich nach dem letzten Strohhalm und fixiert ihn mit seinem Blick. Beides steckt also voller Symbolik. Der kleine Mann will also festhalten am Plastik, am Althergebrachten, das so alt denn doch gar nicht ist: Schließlich kam Plastik ja erst so richtig nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Dann aber massiv in dieser Zeit des Aufbruchs, des Aufschwungs, des Nicht-mehr-Drandenkens an die Not, an den Terror, die Toten, die Geschundenen, an die Angst und auch die Schuld während des Krieges und an den Mangel danach. Plastik steht also für Wohlstand, genauso wie Öl, Kohle, Autofahren, Weltreisen, Fliegen, Fleisch essen – alles Dinge, die in dieser Zeit des Aufschwungs vor allem in westlichen Industrieländern noch nicht bedenklich waren. Sie standen im Gegenteil für das Positive, das Immer-mehr, Immer-weiter und Immer-höher. Und was hat der am Laternenmast angeprangerte Zwerg damit zu tun? Er wünscht sich all das zweifellos zurück. Zumal er selbst ja offensichtlich auch aus Plastik war. Der Laternenmast dient zusammen mit dem kleinen Weißhaarigen und dem Strohhalm also sozusagen als Erinnerungstotem. Es blickt zurück auf die vermeintlich positiven Zeiten. Die nun aber unweigerlich vergangen sind. Und das wird durch den sehnsüchtig auf den Halm gerichteten Blick des Laternenzwerges deutlich unterstrichen.

Vielleicht hat aber auch – wir werden es nie erfahren – ganz einfach ein Anwohner in der Nähe des Laternenmasts diesen Zwerg an dem Pfahl befestigt. Ein Vorbeifahrender – vielleicht der Spießer selbst, seine Frau, seine Kinder oder ein Nachbar, der den Zwerg geklaut hat,  oder ein Außerirdischer, der einst dachte, er habe etwas Wertvolles von der Erde mitgenommen, dann aber feststellte, dass es sich um billiges Plastik handelte und dann die Figur aus dem UFO heraus einfach zurück zur Erde katapultiert hatte – egal, wer oder wie, die Person wollte die Figur auf jeden Fall so schnell wie möglich und so unbeachtet wie es ging loswerden und hat ihn dort auf die Straße geworfen. Der Zwerg-Festbinder aus der Nähe der Laterne wird nun wohl seine Freude haben, wenn er all die Wanderer beobachtet, wie sie auf den Zwerg reagieren. Ob er allerdings damit gerechnet hätte, dass sich jemand so viele Gedanken darüber machen würde wie ich? Wohl kaum. Wahrscheinlich hat er (oder sie) ja selbst sehr wenig dabei gedacht. Vielleicht. Doch wer weiß das alles schon so genau. Vielleicht war aber auch genau das beabsichtigt. Vielleicht bin ich ja schon der 8597., der sich genau solche Gedanken macht. Huch. Vielleicht werden ja meine Gedanken von dem Gartenzwerg ferngesteuert – vielleicht von Bill Gates, dem großen Gartenzwergliebhaber. Nein. Ich will hier gar nicht weiterdenken, ich weigere mich jetzt ganz einfach. „Bine“, rufe ich verzweifelt. „Helf mir, Bill Gates ist hinter mir her.“

Share.

Comments are closed.